hwk photo by Julian Mommert Neues Stuck I Seit sie Ein Stuck von Dimitiris Papaioannou 20180504 JCM 7396„Neues Stück 1“ des Tanztheaters Pina Bausch in Wuppertal

Hanswerner Kruse

Wuppertal (Weltexpresso) - Ein Tänzer besteigt einen Stuhl am linken Rand der halbdunklen Bühne, bekommt einen weiteren Stuhl gereicht, auf den er sich stellt. Dann nimmt eine Tänzerin mit High Heels seinen Platz ein. Mit der Zeit arbeitet sich so das ganze Ensemble zeitlupenhaft auf den Stühlen an der Rampe entlang und verschwindet allmählich am rechten Rand. Zehn Minuten lang ertönt keine Musik, nur das Scharren und Knarren der Möbel ist zu hören.

Während Einzelne im Hintergrund noch mit Stühlen balancieren oder improvisieren, scheinen auf der Bühne eigenartige Bilder auf: Ein Mann wird aus dicken Papierknäueln geschnitten, später bewundert er sich als nackter Narziss in kleinen Spiegeln, die ihm Frauen reichen. Mit einem riesigen Baum besteigt eine winzige Tänzerin das Gebirge aus grauen Matten im Hintergrund der Bühne. Eine Frau scheint mit zwölf Beinen zu tanzen. Rücklinks gleiten einzelne Menschen extrem langsam den Berg hinunter...

Diese grotesken, meist schönen, manchmal auch lasziven Bilder sind keine Zwischenstationen des Tanzes, keine eingefrorenen Bewegungsbilder, sondern überwiegend eigenständige „lebende“ Gemälde und Skulpturen. Es ist deutlich, der Gast-Choreograf Dimitris Papaioannou kommt von der Bildenden Kunst, der Performance Art und dem experimentellen Theater. Klassisch oder zeitgenössisch wird in dem neuen Stück wenig getanzt, denn der griechische Choreograf knüpft an die mittlere Schaffensphase der Bausch an, seit der wir ja wissen: „Vieles kann Tanz sein.“

Mit dem Ensemble hat er wohl ganz im Geiste der legendären Choreografin gearbeitet: Etliche Szenen entstanden wie bei ihr aus Improvisationen, selten mal zitiert er ihre typischen Tanzfiguren, etwa eine „richtig“ getanzte Diagonale. Doch ansonsten entwickelt der Grieche ein ganz und gar individuelles Bildertheater, das sich dennoch in der Tradition des Wuppertaler Tanztheaters weiß.

Auch wenn mal ein Mythos wie Narziss oder der Heilige Sebastian angedeutet wird, erzählen die Szenen nichts, fügen sich nicht zu einer stringenten Geschichte zusammen. Die fließenden, von den 17 Tänzerinnen und Tänzern geschaffenen, traumhaften Bilderwelten sind vielmehr assoziativ verknüpft. Das Ensemble zeigt keine charaktervollen Figuren sondern kreiert eigene visuelle Wirklichkeiten: Frauen werden auf Stühlen zum Schweben gebracht. Ein Mann stelzt mit an den Beinen gebundenen Pfählen herum. Es gibt keine erkennbaren Botschaften, Papaioannou zeigt zu relativ wenig Musik nicht illusionistische Tableaus, die jedoch stark die Imaginationen und Fantasien des Publikums stimulieren. Oder wie es der Theaterwissenschaftler Peter Simhandl einst formulierte: Bildertheater setzt „das Wechselspiel zwischen den bildhaft strukturierten Schichten des Unbewussten und dem begrifflichen Denken in Gang.“

Erst neun Jahre nach dem Tod der Begründerin des deutschen Tanztheaters macht sich die Wuppertaler Bühne mit alten Bausch-Tänzerinnen und jungem Nachwuchs auf die Suche nach neuen Perspektiven. Einerseits soll das Wuppertaler Ensemble die 46 Stücke pflegen, die in fast 40 Jahren entstanden sind und präsentiert sie weiterhin lokal und international in unveränderten Neuinszenierungen. Andererseits sollen Gast-Choreografen in Residenzen mit dem Ensemble neue Wege erkunden. Bereits am 2. Juni wird ein weiteres „Neues Stück“, diesmal des norwegischen Regisseurs, Dramatikers und Choreografen Alan Lucien Øyen, Premiere haben. Auch von ihm ist eher bildhaftes als choreografisches Theater zu erwarten.


Fotos: 
© Julian Mommert

Info:
Weitere Aufführungen jeweils im Opernhaus Wuppertal:
„Neue Stücke 1“ vom 5. bis 16 sowie 18. bis 20. Mai
„Neue Stücke 2“ am 2. / 3. / 6. und vom 8. bis 10. Juni
www.pina-bausch.de