Bildschirmfoto 2019 01 18 um 08.50.00Zum Tod der deutschen Schriftstellerin und Übersetzerin Mirjam Pressler

Yves Kugelmann

Zürich (Weltexpresso) - Dieser Abschied war für immer. Die Begrüßungen waren stets für das Jetzt. Mit einer festen Umarmung – als ob sie Menschen immer fassen wollte. Alles war wie sonst. Mirjam Pressler war dankbar für alles. Für jeden Moment, jedes Gespräch, für jede Begegnung mit Menschen – für das Leben. Dieses begann für sie so schwer.

Geboren 1940 in Darmstadt als uneheliches Kind, war es die Literatur, die ihr in einer problematischen Pflegefamilie in Hessen Halt und Hoffnung gab. Mirjam Pressler erzählte nicht viel über ihre schwere Jugend, doch sie schrieb fortan in ihren Werken darüber – irgendwie in jedem Satz, ohne darauf einzutreten. Unaufdringlich schrieb sie für eine bessere Welt. Wort für Wort ohne moralische Diktion. Sie machte Abitur, studierte an der Kunsthochschule und lebte einige Jahre in Israel mit ihrem ersten Mann, wurde Mutter von drei Töchtern und arbeitete, wieder zurück in Deutschland, als Taxifahrerin und in einem Jeansgeschäft. Pressler war eine Lebenskünstlerin, die durch die Kunst getragen war und die nie elitär, sondern für Menschen und speziell Jugendliche schrieb. Es sind oft Geschichten, inspiriert durch die grossen und kleinen Themen und Parabeln der Weltliteratur.


Zuversicht als Elixier

Begonnen hat ihr Schreiben mit dem Ärger über die Bücher, die ihre Töchter lasen. Sie begann Kinderbücher zu schreiben. Eines ihrer ersten, «Bitterschokolade», beschreibt ein Mädchen, das ihre Sorgen mit extensivem Schokoladenkonsum kompensiert. Schon damals zeigte sich, wie Mirjam Pressler mit feinem Gefühl in Kinder- und Jugendwelten eintauchen und diese von innen mit brillanter Schlichtheit beschrieben konnte, die ihre direkte und klare Sprache ausmachen. Literatur wurde zum Elixier, doch nicht zur Obsession. Das Menschliche, die Menschen, ihre Freunde und Familie waren Mirjam Pressler vor allem wichtig, auch wenn sie getrieben von der Faszination an Texten und Geschichten, denen sie sich gerade zuwendete, eine geduldige Ungeduld vorleben konnte.


Literaturpreis als Karrierestart

Bald erhielt sie einen ersten, einen renommierten Kinderliteraturpreis. Damit kam der Durchbruch. Sie hat über 50 Bücher verfasst und ist zu einer der bedeutendsten Kinder- und Jugendbuchautorinnen geworden. Schließlich brachte Pressler die israelische Literatur nach Deutschland. Früh begann sie mit Übersetzungen der Werke von Amos Oz, Aharon Appelfeld, Zeruya Shalev aus dem Hebräischen. Es folgen andere Sprachen und ein gigantisches Übersetzungswerk von rund 500 Büchern. Unermüdlich und nie im Druck arbeitete Pressler, reiste permanent zu Lesungen, Auftritten, besuchte Schulklassen und wurde zu einer Literaturvermittlerin erster Klasse. Denn sie schaffte es immer sogleich, alleine schon mit ihrer offenen und direkten Art, Hürden zwischen Werk und Lesern abzubauen. Über Preise freute sie sich – doch in einer Bescheidenheit, die immer wieder vergessen ließ, was für ein immenses Werk sie geschaffen hat. Zusammen mit Amos Oz erhielt sie noch im letzten Jahr an der Leipziger Buchmesse eine Auszeichnung für die Übersetzung seines Romans «Judas». Im Dezember 2018 überreichte ihr der Bürgermeister in ihrem Wohnort Landshut das Grosse Bundesverdienstkreuz und im gleichen Monat erhielt sie mit der von ihr übersetzen Lizzie Doron den Geschwister-Korn-Preis in der jüdischen Gemeinde Frankfurt (vgl. tachles).


Jüdische Familiengeschichten

In den 1980er-Jahren begann sie die Tagebücher und Schriften von Anne Frank neu zu übersetzen für eine erste kritische Edition. Eine wegweisende Übersetzung, die weit darüber hinaus den verstellten Blick auf die junge Autorin durch Direktheit und Offenheit freilegte. Schließlich begann sie im Auftrag des Anne-Frank-Fonds Basel die Edition der Tagebücher für eine weltweit gültige Lesebuchausgabe zu erstellen. Diese erscheint seit 1990 und ist bis heute die weltweit verbindliche Edition für über 70 Sprachen in rund 150 Ländern. Pressler schaffte es, die Texte und die Familiengeschichte wieder in den Kontext der Frankfurter Sozialisation der Familie zu stellen und das literarische Schaffen von Anne Frank mit einem direkten und vermittelnden Zugang ins Zentrum zu rücken. Es folgten Schriften und Bücher über die Familie, die den Holocaust als Ganzes und die Geschichte der Familie Frank-Elias-Stern-Cahn im Konkreten auf Basis von Familiendokumenten und Briefen dem Hauptwerk des Tagebuches herausarbeitete. Pressler vermochte das Werk von Anne und das Wirken von Otto Frank in einem ganz neuen Verständnis im Kontext einer deutsch-jüdischen Familiengeschichte, die an der Frankfurter Judengasse im Mittelalter begann, sowie eine Kultur- und Schreibtradition zu erschlies­sen. So wurde Mirjam Pressler letztlich Botschafterin einer Autorin, die nicht mehr für sich, aber durch ihr Werk authentisch sprechen konnte, wenn es eben auf das zurückgeführt wurde – was im öffentlichen Diskurs oft verkennend weggelassen wurde.

Mirjam Presslers Übersetzungswerk ist nie übergriffig und immer eigenständig. Sie hatte einen derart direkten und unverstellten Zugang zu Texten und Literatur, dass sie im besten Sinne den Weg zur «einfachen» Übersetzung und auch Interpretation fand. Wenn sie über Autorinnen und Autoren, über Werke und die Auseinandersetzungen sprach, dann traf sie in ganz schlichten, klaren Sätzen jeweils den Kern – ganz unverhohlen. Dadurch vermittelte sie eine Art Authentizität und Reinheit des Werkes, das oft untergeht in Interpretationen, die Werkschaffende in den Hintergrund treten lassen.


Schreiben als Judentum

In vielen Texten setzte sich Pressler mit dem Judentum, der historischen Erfahrung auseinander. Auch mit ihrem eigenen Judentum, das sie als Jugendliche zu faszinieren begann. Für sie sollte es die Kultur des Menschlichen für Menschen werden, gerade auch in der Auseinandersetzung mit Texten längst verstorbener Autorinnen und Autoren, die durch die Texte in die Gegenwart finden konnten. Am Mittwoch ist die Schriftstellerin und Übersetzerin nach langer Krankheit im Kreise ihrer Familie verstorben. Auch in ihren letzten Tagen und Stunden hat Mirjam Pressler nicht gehadert. Sie blieb dankbar mit einem fast kindlichen Blick, den sie für sich und andere bewahren konnte. Deutschland verliert eine seiner bedeutendsten Autorinnen und Übersetzerinnen, die israelische und jüdische Literatur eine wichtige Botschafterin. Und erstmals ist der Abschied für immer.

Mirjam Presslers letzter Roman «Dunkles Gold» erscheint im Früjahr beim Beltz Verlag.

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Info:
Der Autor des Nachrufs ist Stiftungsrat im Anne Frank Fonds Basel.

Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 18. Januar 2018








Mirjam Pressler (1940–2019).