Bildschirmfoto 2019 02 21 um 01.56.58Zum Tod des bedeutendsten deutschsprachigen Theater- und Filmschauspielers

Wolfgang Mielke

Berlin (Weltexpresso) - Das erste Mal nahm ich ihn wohl auf den großformatigen Fotos, die in der damaligen ziemlich neu gebauten Schaubühne am Lehniner Platz im Foyer und den Gängen hingen, wahr. Mitte der 1980er Jahre. Zu der Zeit lief die zu recht berühmte Inszenierung der Tschechowschen "Drei Schwestern" von Peter Stein (*1937).

Eine Bekannte von uns war damals etwas enttäuscht, dass nicht Bruno Ganz (1941 – 2019) den Oberstleutnant Werschinin spielte, sondern 'nur' Otto Sander (1941 – 2013). Das 'nur' war aber alles andere als berechtigt. Otto Sander erfüllte die Rolle so gut, dass ich noch zwei Jahre später, als ich bei Professor Helmut Börsch-Supan (*1933) "Das Ballsouper" (1878) von Adolph Menzel (1815 - 1905) besprach, den Offizier in der Mitte der Dreiergruppe unten links mit Otto Sander als Werschinin verglich. 

Bruno Ganz hätte den Werschinin viel weniger karg und preußisch gespielt, sondern eher warm ausufernd, weniger als eine sachliche, vielmehr als eine poetische Erscheinung. - Aber es war nicht lange darauf, dass ich ihn, ebenfalls in der Schaubühne, als Oberon in "Der Park" (1985) von Botho Strauss (*1944), einer Übertragung des Shakespeareschen "Sommernachtstraums" auf die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland. - Bruno Ganz war darin höchst eindrucksvoll. Seine Stimme, seine Art zu sprechen, kann niemand vergessen, der sie je gehört hat. Sein Spiel in diesem Stück sehr zurückgenommen. Jutta Lampe (*1937 oder 1943) war seine Titania. Und, besonders bleibend in Erinnerung, Walter Schmidinger (1933 – 2013) als Cyprian, der Erfinder, die Variante zu Shakespeares Puck.

Bruno Ganz ließ sich als Oberon sehr viel gefallen. Die märchenhaften Elfenfiguren Shakespeares treffen im "Park" ja auf die rücksichtslose Gegenwart des damaligen West-Deutschland. Junge Leute stoßen auf diesen Oberon, der in einem schlichten, sauberen blauen Anzug im Park des "Parks" steht, verspotten ihn, der sich nicht wehren kann, weil seine Zauberei in dieser Wirklichkeit keine Wirkung zeigt, zünden seinen Anzug an - wie dreißig Jahre später in Berlin die Ärmsten der Armen, Obdachlose, angezündet werden. Einer der Täter – war er nicht selbst Flüchtling gewesen?! - ließ sich 2015 mit seiner Retterin Angela Merkel (*1954) auf einem Selfie verewigen.

"Die Fremdenführerin" (1986) war die nächste Gelegenheit für mich, Bruno Ganz auf der Bühne zu erleben. Er spielte dort zusammen mit Corinna Kirchhoff (*1958) als Fremdenführerin an einem antiken Ort in Griechenland; Bruno Ganz war ein Lehrer auf der Suche nach einem neuen Sinn in seinem Tun und seinem Leben. Beide geraten in eine vielfältige Beziehung, von Regisseur Luc Bondy (1948 – 2015) dadurch ausgedrückt, dass sie verschiedenste Positionen rund um das Haus – einen Glaskubus – einnahmen und auch - vom Berliner Publikum verlacht – auf dem Dach dieses Glaskastens doch etwas verrenkt und bemüht dauernd wechselnd saßen. Aber es war eine Aufführung, die im Gedächtnis bleibt, zu recht.

Eher gefällig war Luc Bondys Inszenierung von Molieres "Menschenfeind", den Botho Strauß bearbeitet hatte. Sie fand statt im Hebbeltheater, und Karl-Ernst Herrmann (1936 - 2018) hatte die Staffelung der Ränge des Hebbeltheaters noch einmal als einen Spiegel auf der Bühne nachgebaut. Herrmann war ein eminenter Bühnenbildner. Schüler von Willi Schmidt (1910 – 1994), und man stellt es dankbar fest, eine Generation nach ihm ebenfalls Schüller Willi Schmidts gewesen zu sein. - Während meines Studiums der Theaterwissenschaft bei Henning Rischbieter (1927 – 2013) wurden zahlreiche Inszenierungen der Schaubühne am Halleschen Ufer und später dann der Schaubühne am Lehniner Platz analysiert. Hier begegnete mir Bruno Ganz natürlich ebenfalls immer wieder; nicht nur als Moritz Stiefel in Frank Wedekinds (1864 - 1918) "Frühlings Erwachen".

Überhaupt Filme: Bruno Ganz als Industrieller, der seinem Bruder klarzumachen versucht, dass das Hauptkapital des Unternehmens die durchgehend laufenden und somit produzierenden Maschinen sind, nicht die Menschen, die im Unternehmen beschäftigt sind. - Bruno Ganz als weltentrückter Erfinder, der noch vor dem 1. Weltkrieg das Kettenfahrzeug erfindet – und dann in einer Wochenschau feststellen muss, dass seine Erfindung längst von anderen ebenfalls erfunden wurde, aber nun auch bereits tauglich eingesetzt wird. - Sieht man bei Wikipedia jetzt die Filmografie durch, die allerdings unvollständig ist, fällt einem auch wieder "Nosferatu" (1979), kein sehr guter Film, aber Bruno Ganz taucht doch in der Erinnerung wieder auf.

Und mit seinem Kollegen Otto Sander zusammen spielte Bruno Ganz einen in die Berliner Mauer-Wirklichkeit gefallenen Engel in Wim Wenders (*1945) "Der Himmel über Berlin", der als Memento Mori in Erinnerung bleibt, mehr noch als dass er selbst eine klare Aussage gehabt hätte. - Sein größter filmischer Erfolg war die Darstellung von Adolf Hitler (1889 – 1945) in "Der Untergang". Der Film erhielt eine Oscar-Nominierung, aber natürlich den Oscar nicht, weil es sich, wie jeder verstehen wird, schlecht gemacht hätte, indirekt Adolf Hitler in Hollywood einen Oscar zu verleihen. - Beeindruckend in diesem Film waren die positiven Züge, die Bruno Ganz der historischen Figur verlieh: Väterlichkeit, sogar etwas von Güte und Humor und Trauer über die durch die Kriegsentwicklung nicht mehr zu verwirklichenden Möglichkeiten. Diese Züge prägten den Großteil des Films. Die Anteile des Bösen, Wütenden, zu Mord und Vergeltung Entschlossenen erspielte er sich nicht; sie blieben angestrengt, aber nicht bewältigt. Das spricht nicht gegen Bruno Ganz, sondern über ihn: Das Böse, die Vernichtung, der Nihilismus meinetwegen, waren nicht seine Sache. 

Bruno Ganz hatte fünfzehn Jahre zuvor, 1989, den Kommentar zu dem Film "Architektur des Untergangs", von Peter Cohen, gesprochen. Der Film fiel zusammen mit dem Mauerfall und der deutschen Wiedervereinigung, die ihm eine größere Bedeutung gaben, als er sonst gehabt haben dürfte; denn Mauerfall und Wiedervereinigung verführten Viele zunächst zu dem Gedanken, das Tor zur Vergangenheit sei wieder geöffnet worden, während die Vergangenheit durch diesen bedeutenden Schritt in die Zukunft noch eine Stufe mehr versinken musste. In diesem Film ging es um den Aspekt der Sauberkeit, den der Nationalsozialismus auf verschiedensten Ebenen anstrebte – oder anzustreben behauptete. In dieser Zeit spielten dann gerade die "ethnischen Säuberungen" im zerfallenden Jugoslawien eine Rolle in der damaligen Gegenwart; Jugoslawien, das damals aus dem Kalten Krieg auftaute und die Konflikte der Vergangenheit, die hinter dem Eisernen Vorhang wie eingefroren gewesen waren, nun neu aufbrechen und einer Lösung zustreben sah: Jugoslawien brach in seine verschiedenen Bevölkerungsanteile auseinander, aus denen dann kleine Nationalstaaten wurden, und war auf dem deutlichen Wege, ins neue Europa hineinpassen zu können. Durch die Balkan-Route, fünfundzwanzig Jahre später sind die damaligen Bestrebungen inzwischen mehr oder weniger ad absurdum geführt worden.

Schön wäre es natürlich, wenn ich hier jetzt sagen könnte: Unser Briefwechsel hat die überlegene Darstellung von Bruno Ganz im "Untergang" auch ein kleines Stückchen mitbewirkt!

Es folgte 2009 ein Film über das Sterben, "Das Ende ist mein Anfang"; über das Sterben des italienischen, international bekannten Journalisten und Autor Tiziano Terzani (1938 – 2004), den Bruno Ganz spielte; kontrastiert durch das teils peinlich aufdringliche Spiel Erika Pluhars (*1939), als dessen Ehefrau. - Was noch? Ja, Bruno Ganz spielte hervorragend geheimnisvoll den undurchsichtigen Jorge O'Kelly, den sich bemüht immer wieder in Nebengassen, Türeingänge und obskure Räume Zurückziehenden, dessen Geheimnis man nicht auf die Spur kommt. Charlotte Rampling (*1946) und Jeremy Irons (*1948) waren seine hervorstechenden Partner. - Über seine vorletzte Rolle, Sigmund Freud, in "Der Trafikant" (2018) hieß es in einer Kritik, nicht einmal sein Spiel habe den Film retten können. 

Ach ja: Auch "Brot und Tulpen" muss noch erwähnt werden, dieser in Venedig spielende Film aus dem Jahr 2000, in dem Bruno Ganz einen Kellner spielt, der sich durch eine ungemein noble und jedes Schimpfwort vermeidende und stattdessen gekonnt umschreibende und dadurch nur umso wirksamere Sprache auszeichnet. Scheinbar 'kleine Leute', komplizierte, gebrochene Charaktere, die doch eine große Bildung und vor allem Einsicht ins Leben haben, waren bei Bruno Ganz wie bei kaum einem anderen Schauspieler sonst gut untergebracht. Die Weisheit eines Clowns haftete ihm an. - Träumte ich nicht neulich, mit ihm einen Film über eine Busfahrer machen zu wollen? - Ein Schauspieler lebt nicht nur im Film, sondern vor allem auf der Bühne. Anläßlich der Weltausstellung 2000 in Hannover inszenierte Peter Stein den ganzen "Faust", alle 12111 Verse, ungestrichen. Der Umfang war bedeutender als die Inszenierung selbst. Bruno Ganz spielte darin den alten Faust. Ich habe nur die Fernseh-Aufzeichnung davon gesehen. Bruno Ganz erschien darin als ein überforderter Schauspieler. Er schien mit der Sprache Goethes zu kämpfen. Jeder einzelne Satz schien eine Hürde, die er nur mit Mühe und großer Anstrengung zu überwinden fähig war. Das Überraschendste und, wenn man so will, Schlimmste dabei war allerdings, dass Bruno Ganz als Faust nicht intelligent wirkte, sondern dumm.

Wie gerne hätte ich mit ihm noch einmal einen intelligenten Faust gemacht! --- Denn, und man kann das als einen Ersatz ansehen, wie intelligent wirkte Bruno Ganz als Erzähler / Leser / Vortragender, als Dmitri Schostakowitsch (1906 – 1975), wie er sich der kommunistischen Gängelei, dem kommunistischen Terror zu erwehren sucht! Das war eine ganz (Ganz!) großartige Lesung, die im Hamburger Thalia Theater zu sehen war! Bruno Ganz, unterbrochen vom Spiel einiger seiner Kompositionen durch ein Streichtrio oder -quartett! Das ist auch wirklich ins Gehirn eingebrannt. Am Ende wurde Bruno Ganz ein Strauß von besonderen weißen Blumen (Callas?) überreicht. Ich dachte, er würde sie in der Garderobe vielleicht an seine Mitarbeiter verschenken, statt sich sozusagen mit ihnen zu belasten. Aber da hatte ich ihn schlecht gekannt: Er hatte, auch in dieser Szene, nicht umsonst Kleists (1777 – 1811) "Prinz von Homburg" gespielt, in dem es im fünften Akt heißt:

Homburg:
Ach, wie die Nachtviole lieblich duftet!
Spürst du es nicht?

Stranz:
Es sind Levkoin und Nelken.

Homburg:
Levkoin? - Wie kommen die hierher?

Stranz:
Ich weiß nicht. -
Es scheint, ein Mädchen hat sie hier gepflanzt.
- Kann ich dir eine Nelke reichen?

Homburg:
Lieber! -
Ich will zu Hause sie in Wasser setzen.


Und genau so verhielt sich Bruno Ganz nun auch nach dieser herausragenden Darstellung im Thalia Theater: Er hatte Strauß mit den weißen Blumen in seinen Rucksack gesteckt, so dass die Blumen aber frei in der Luft atmen konnten, und verließ, noch ganz deutlich an den Prinz von Homburg, den Peter Stein mit ihm so bedeutend 1972 unter dem Titel "Kleists Traum vom Prinzen Homburg" inszeniert hatte, erinnernd, das Theater, so dass man ihn am Bühnenausgang gar nicht mehr ansprechen konnte (und auch gar nicht mehr ansprechen wollte), ziemlich eiligen und erfolgreichen Schrittes, zusammen mit einem Bekannten, mit einem überraschend breiten, fast an das Watscheln von Enten erinnernden Gang, weg vom Theater, hin zum Gerhart-Hauptmann-Platz oder zur Alster oder zu einem weiter entfernt liegenden Treffpunkt, angeregt vertieft ins Gespräch und mit sich und der Welt zufrieden, seine Vorstellung im Hamburger Thalia Theater so erfolgreich erfüllt zu haben. -

Ich konnte nur noch einen kurzen Film aufnehmen davon. ----

Abends schrieb ich an eine Bekannte: "Heute Vormittag den bedeutendsten deutschen Schauspieler in einer Lesung über Schostakowitsch gesehen, gehört: Bruno Ganz. Und ich bin sehr beeindruckt. Wahnsinn! Wieviel durchschnittlichen Mist kriegt man geboten - und dann dieses Wunderwerk von einem Menschen! "