wm roos ouwehand F carla kogelmanDEUTSCHE ERSTAUFFÜHRUNG IM ERNST-DEUTSCH-THEATER, HAMBURG, Teil 2/2

Wolfgang Mielke

Hamburg (Weltexpresso) - Bei der ersten Episode ist 'Sophie' 6 Jahre alt. Die Zahl wird links und rechts an die Wand des Zimmers geworfen. Hier hochzählend von 1 – 6. Zuerst denkt man an den Countdown eines Filmstreifens, aber spätestens beim zweiten Bild ("17"), hat man dieses Informationssystem erkannt. Dieses zweite Bild zeigt 'Sophie' als pubertierendes Mädchen. Und hier sieht man auch, wie die Autorin die Individualisierung eingesetzt hat: Pubertierende Jugendliche, die sich mit ihren Eltern herumstreiten, hat man schon häufig gesehen. Das ist also nichts Neues. Neues kann also nur im Inhaltlichen liegen, so auch hier, indem 'Sophie' ihrem Vater vorwirft, seine Argumente und Entschuldigungen müssten eigentlich von ihr gesagt werden – und ihre Sätze von ihm! Denn der Vater, ein schwacher Mann, aber gut gespielt von Christoph Tomanek, lebt seine Rückzugsfreiheiten beständig auf Kosten seiner Frauen und seiner Tochter.  Es gelingen also in den Klischees immer wieder Momente der originelleren Individualisierung.

Noch während der ersten Szenen, - es wurde Szene an Szene gelegt -, dachte ich, das Stück würde ohne Pause durchgespielt werden. In dem Moment hätte man es für das kleinere Übel gehalten, denn ein Großteil der Szenen vor der Pause, die es dann doch gab, greifen zu wenig, um zu interessieren. Mehr und mehr tritt die Hauptfigur 'Sophie' in den Hintergrund – und dafür ihre Mutter, gespielt von Maria Hartmann, in den Vordergrund: Sie altert und stirbt. Alles ganz wirkungsvoll; sehr in die Breite gespielt. Dann ist Pause.

Die Stimmung im Publikum ist gemischt; nicht begeistert; sondern wohlwollend abwartend.

Die ersten Szenen nach der Pause sind ebenfalls wieder wenig griffig. Als in der wohl zweiten Szene nach der Pause die Zahl an der Seitenwand des Zimmers erst auf "56" steht, sich dann aber durch Weiterschieben der Ziffern auf "65" erhöht, ist eine deutliche Erleichterung zu spüren.  Und jetzt mit den beginnenden Alters-Szenen der Hauptfigur 'Sophie' wächst das Stück. Das Nur- oder Überwiegend-Typische – vom ersten Kuss bis ersten Kind und der gescheiteren Ehe - weicht dem stärker Individuellen. Ein Mensch wird sichtbar. Und hier erst beginnt der Abend eine Ruhe zu erhalten und ein stärkeres von Innen herauskommendes Leben.

Absicht, also Können der Regie, oder Zufall: In jedem Fall fällt diese beginnende sich ausbreitende Ruhe zusammen mit der beginnenden Lebenssicherheit der 'Sophie'. Ab hier hat sie keine Angst mehr, wie sie sagt. 'Absicht' würde hier allerdings nicht verwundern, denn der Regisseur des Abends heißt Antoine Uitdehaag (*1951), der schon 2013 mit der grandiosen Inszenierung von "Der letzte Vorhang" in Kooperation mit dem Berliner Renaissancetheater mit der wunderbaren Suzane von Borsody (*1957) und dem hier nicht minder qualitätvollen Guntbert Warns (*1959) eine unvergessliche Leistung hingestellt hat, die an den größten der Bühnen der Welt noch hätte gezeigt werden können.

Uitdehaag, der aber nicht, wie man seinem Namen nach annehmen könnte, aus Den Haag stammt, sondern in 's-Hertogenbosch geboren wurde, inszenierte am Ernst-Deutsch-Theater, ebenfalls als Koproduktion mit dem Renaissancetheater, auch das andere Zweipersonenstück "Unwiderstehlich" (Premiere 27.4.2017), in dem bereits Anika Mauer (*1974) spielte; zusammen mit Boris Aljinovic (*1967), der gerade mit "Der Fall Furtwängler" im Ernst-Deutsch-Theater (Premiere 17.1.2019) einen berechtigten und großen Erfolg hatte. "Unwiderstehlich" blieb aber deutlich hinter "Der letzte Vorhang" zurück, - auch wenn fast das selbe üppige englische Ledersofa als Wiederholungs-Zitat verwendet wurde.

Die Inszenierung von "Sophie" ist die schwächste dieser drei Inszenierungen. Die Inszenierungen aus dunklen Räumen heraus liegen Uitdehaag vielleicht mehr, als nun aus diesem hellen Zimmer. Trotzdem muss man sich seit "Sophie" den Namen Doris Mauer merken.

Das Stück könnte eigentlich auch "Sophies Zimmer" heißen. Denn alle Szenen spielen im selben Raum. Das Zimmer wird nur verschwindend gering dekorativ verändert. Die neue Szene ergibt sich zum einen durch die neue, andere Kleidung der Hauptfigur, zum anderen durch die jeweils andere Farbe der das sich verjüngende Zimmer nach hinten hin abschließenden Wand.  Immer gleich – und fast muss man überrascht sagen, immer unhygienisch gleich bleibt die billig-blau gemusterte Bettdecke, vielleicht aus einem Baumarkt, - obwohl zwischen der ersten und der vorletzen Szene über 70 Jahre liegen – und vor der Pause auch noch die Mutter in dieser Bettwäsche gestorben ist.

Das Bett ist Kontinuum und Mittelpunkt des Zimmers wie der Szenen. Man hätte das Stück also auch "Sophies Bett" nennen können als den verengten Mittelpunkt des Stückes. Sicher soll auch das symbolischen Wert haben: 'Geburt und Grab' ... Der Lebensbogen eben. Das letzte Bild zeigt 'Sophie' als 87jährige, sehr alte Frau. Ihr Enkel nennt sie 'Oma'. Das Zimmer ist ausgeräumt. Das Bett abgezogen, die Matratze entfernt, es steht nur noch als karges Gestell im Raum. Sophie steht mit ihrem Enkel in diesem ausgeräumten Zimmer. Das Haus wird geräumt. Die Familie, die dort über 80 Jahre lang gelebt hat, gibt es anscheinend auf. Das junge Leben und die Zukunft, die im Enkel liegen, werden sich von diesem Haus und also von 'Sophies Zimmer' ablösen; trennen. Dass 'Sophie' aber ungern geht und eigentlich gar nicht gehen möchte, - in ein Alters- oder Pflegeheim nimmt man an -, vermittelt sich schnell. Und dass sie ihren Enkel wegschickt, um noch ein paar Minuten alleine in diesem, ihrem Zimmer zu bleiben, erwartet man ebenfalls. Dass sie sich dann auf dieses uneinladende Gestell legt, - alt, mühsam, aber nicht eitel-ausgespielt -, überrascht ebensowenig. Ein anderer Firs, Tschechow (1860 – 1904) natürlich, lässt grüßen! Auch Firs, übrigens, ist 87 Jahre alt! ("Wenn du klaust, klau bei den Besten!" - sagt Woody Allen (*1935)). 

Für einen jüngeren Menschen ist dieses Ende nicht überraschend. Im Gegenteil: Es hat etwas von Sinn, von Lebens-Behauptung - und sei es aus Trotz. --- Vor mir in der Reihe sitzen viele ältere Zuschauer. Das Durchschnittsalter des Ernst-Deutsch-Theater-Publikums wird zwischen 60 und 70 Jahren liegen ... Der ältere Herr vor mir trägt ein Hörgerät. Ist das ein Stück für alte Menschen? Sehr fraglich. Will man sein ehemaliges Zimmer leer geräumt sehen – und sich darin schon als so gut wie rausgesetzt?  Will man sehen, wie der Lebenspartner, im vorletzten Bild und deckend gespielt von Dirk Ossig (*1971), allmählich dement wird und ohne die Führung seiner Frau kaum noch lebensfähig?  Will man erfahren, im letzten Bild, dass dieser Lebenspartner seiner Alzheimer-Krankheit bereits erlegen ist?  Will man all diese Alterungs- und Absterbensprozesse, denen man ja bereits selbst ausgesetzt ist oder jedenfalls in sehr kurzer Zeit ausgesetzt sein wird, will man dieses Absterben im Theater vor sich sehen? Ohne die Hoffnung, dass das alte Zimmer neu wieder belebt werden wird? Firs ist eine Nebenhandlung im "Kirschgarten". Er stirbt, und parallel dazu wird der uralte Kirschgarten, der wegen seiner Ausdehnung noch im Konservationslexikon stand, abgeholzt. Aber er weicht etwas Neuem, der Welt von morgen, der Parzellierung und Demokratisierung. Dass sie wenig später vom Weltkrieg und von der Revolution erstickt werden wird, ist noch nicht zu ahnen.  Das Neue bricht sich erstmal Bahn! Und dieses Neue fehlt in Roos Ouwehands Stück.

Natürlich kann man eine Welt auch ohne den Ausblick auf eine Zukunft völlig untergehen, vergehen lassen. Das ist möglich. Aber es muss dann auch bis in die Applausordnung durchgeführt werden. Hier wirkt sie beliebig-schlampig. Früher wurde so etwas akkurat einstudiert. Anika Mauer erscheint zum Applaus in ihrem letzten Kostüm. Also gerade noch am Leben, aber uralt. Maria Hartmann, ihre 'Mutter' im Stück, die bereits im Bild vor der Pause gestorben ist, kommt nun nicht sozusagen aus dem Grab auf die Bühne zurück, wie es konsequent wäre, sondern flott-frisch als Teenager-Mutter im Küchenkleid. Das passt nicht – und, schlimmer: verschenkt viel!

Warum sammeln sich die Schauspieler nicht als Gruppe ruhig-schweigend als Gewesene, Gegenwärtige und Kommende, als eine Abfolge von Zeit-Erscheinungen nicht applaus-hungrig, sondern noch, - jedenfalls zuerst! -, noch als Teil des Stückes auf der Bühne? Versammelten sich vielleicht sogar im Halbkreis noch einmal um 'Sophies Bett'?
Hier hätte die Inszenierung also am Ende noch einmal eine sammelnde Kraft zeigen können – und einen letzten Gipfel. 

Freundlicher, starker, aber nicht begeisterter Applaus.

Foto:
Autorin Roos Ouwehand
© Carla Kogelman