Bildschirmfoto 2019 10 07 um 22.30.42Eröffnung »Dekor als Übergriff?«,  Dritter Teil der Sonderausstellungsreihe 111/99 am 10. Oktober um 19 Uhr im Werkbundarchiv – Museum der Dinge.

Romana Reich

Berlin (Weltexpresso) - Zacken, Streifen, Kreise, Quadrate, leuchtende Farben und kräftige Kontraste – keramisches Gebrauchsgeschirr mit abstrakt-geometrischem Spritzdekor erlebt ab Mitte der 1920er bis Anfang der 1930er Jahre als günstiger moderner Massenartikel einen ungeahnten Boom. In Deutschland übertreffen sich mehr als 60 Betriebe im Variantenreichtum der Formen und Dekore für das seriell hergestellte Geschirr.


Im Vordergrund steht dabei nicht mehr das handwerklich gefertigte Einzelstück, sondern die maschinelle Produktion durch mechanisch-technische Instrumente und Verfahren: mit Gussformen, Spritzapparaten und Schablonen. Die neuen Entwürfe orientieren sich an Motiven der zeitgenössischen Avantgarde-Kunst – dem Kubismus, Konstruktivismus und Expressionismus – sowie an der experimentellen Fotografie und am Neuen Bauen mit seinen kantigen Silhouetten.

Spritzkeramik ist für viele Menschen erschwinglich. Ein an Moden orientiertes Konsumverhalten setzt sich bis in die Haushalte auch der ärmeren Bevölkerung durch. Die Beliebtheit steht jedoch im Widerspruch zur Kritik am Ornament in der Gestaltungssprache der Moderne, die seit Adolf Loos’ Verknüpfung von »Ornament und Verbrechen« (1908) kontrovers diskutiert und später vom Deutschen Werkbund in der Ausstellung und Publikation »Form ohne Ornament« (1924) programmatisch aufgegriffen wird.

Warum ist die Spritzdekor-Keramik in der Weimarer Republik so viel erfolgreicher als das schlichte, ornamentlose Porzellan? Warum verschwindet sie Mitte der 1930er Jahre aus dem Warenangebot? In welchem Zusammenhang stehen die Dekore zu den Bildmotiven der künstlerischen Avantgarde und deren Verfemung als »entartet«? Und in welchem Verhältnis steht das Spritzdekor zum Kanon der klassischen Moderne?

Die Ausstellung »Dekor als Übergriff?« zeigt mit Spritztechnik dekorierte Objekte namhafter und anonymer Gestalter*innen sowie die nüchternen, monochromen Gegenentwürfe aus dem Kontext von Werkbund und Bauhaus anhand von Sammlungen privater Leihgeber*innen.


Neuer Dekor- und Formstil

Steingut ist lange Zeit ein minderwertiger Porzellan-Ersatz. Durch neue Misch- und Brennverfahren wird es in den 1920er Jahren stark verbessert. Es ist nun das bei weitem günstigere, formal überlegene und modernere Produkt. Durch neue Produktionsverfahren kann Steingut in großen, klaren und auch eckigen Formen gefertigt und bei niedrigeren Temperaturen mit sehr viel leuchtenderen Farben dekoriert werden als Porzellan. Kurzum: Es ist preiswert, bunt und von guter Qualität.
Das erfordert auch eine neue Formgestaltung und anderen Formenschmuck, der die »Schönheit in der Fabrik- und Massenware« bejaht anstelle einer Rückbesinnung auf historische Muster und individuelle Einzelarbeiten.


Spritztechnik – Maschinenschrift

Die Spritztechnik – bereits um die Jahrhundertwende eingeführt – erlangt in den 1920er Jahren weitreichende Bedeutung für die keramische Industrie. Handspritzapparate bis hin zu Spritzdekor-Vollautomaten dekorieren keramische Massenartikel.
Der Farbauftrag – frei oder mit Schablone ausgeführt – gilt im Gegensatz zum Pinseleinsatz als zeitgemäß. Die individuelle Handschrift der traditionellen Porzellanmalerei wird von der Maschinenschrift des Spritzdekors mit seiner endlos variablen Struktur überholt.


Spritzomanie – Markt und Mode

Mit der massenhaften Herstellung von Spritzdekor-Keramik entwickelt sich eine starke Konkurrenz zwischen den Betrieben, die vom neuen Steingut profitieren wollen. Der Konkurrenzkampf spielt sich auf der Oberfläche ab und führt zu immer gewagteren Dekorvarianten. Sogar während der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1931 bleibt die Produktion hoch. Die ursprünglich höfische und vom Bürgertum übernommene Tradition des repräsentativen, vielteiligen Tafelservice verliert dabei an Bedeutung. An dessen Stelle treten kleinere Geschirrgruppen und einzeln gestaltete Gebrauchsgegenstände wie Tortenplatten oder Kakaokannen in hundertfacher Variation. Am Bauhaus wird der Wunsch nach der Kooperation mit der Industrie zwar formuliert, werden Entwürfe von Prototypen für die Serienproduktion angestrebt, zur Umsetzung kommt es jedoch kaum. Die Herstellerfirmen für Spritzdekor-Keramik schaffen dies mühelos: Serienproduktion, günstige Preise, hohe Stückzahl, Bandbreite der Dekore, moderne Formen und schnelle Verbreitung. Mode und Moderne stimmen auch hier nicht überein.


Abstrakter Spritzdekor – Kunst und Alltag

Kraftvoll-leuchtende Farben, plastische Detailformen, abstrakte Linienkompositionen und konstruktivistische Muster auf Tassen, Tellern und Tortenplatten: die Spritzdekore auf der Alltagskeramik der 1920er und 1930er Jahre bringen die Bildmotive der Avantgarde-Kunst von der Leinwand auf den Küchentisch. Diese außergewöhnliche Popularisierung der gegenstandslosen Moderne für die Gestaltung von Alltagsgegenständen entspricht dem Geist der Zeit mit seinen verschwimmenden Grenzen zwischen freier und angewandter Kunst sowie zwischen Kunst und Alltag.

Die Bezeichnung »Weimarer Geschirr« verdeutlicht dabei, wie sehr es Ausdruck dieser historischen Epoche ist. So populär das Spritzdekor ab 1925 ist, so abrupt verschwindet es Mitte der 1930er Jahre wieder aus dem Warenangebot. Es liegt nahe, dass die avantgardistischen Dekore im Widerspruch zu der Vorstellung des Volksgeschmacks stehen, den die Nationalsozialisten ab 1933 anstreben. Sowohl die Assoziation mit der konstruktivistischen Moderne als auch die Verfemung der Abstraktion in Deutschland als »entartet«, sind Gründe für das Verschwinden des Spritzdekors in der NS-Zeit.

Aber auch später, als die Bauhaus-Entwürfe längst zum Fetisch der Moderne geworden sind, haftet der Spritzkeramik noch lange das Stigma der buchstäblich oberflächlichen Dekoration an. Tatsächlich ist sie weder als billiger Modeartikel noch als Teil der klassischen Moderne zu fassen und brachte sowohl Entwürfe namhafter Gestalter*innen als auch weniger hochwertige, anonyme Massenware hervor.

Foto:
Abb. 1.. Tortenplatten aus der Sammlung Stefan Bachmann in der Sonderausstellung »Dekor als Übergriff?«. Werkbundarchiv – Museum der Dinge, Berlin. Foto: Armin Herrmann, 2019

Info:
Laufzeit der Ausstellung: 11. Oktober 2019 – 10. Februar 2020

Zur Ausstellungsreihe

Das Werkbundarchiv — Museum der Dinge zeigt im Kontext des Bauhausjahres seit November 2018 bis Frühjahr 2020 eine Ausstellungsserie unter dem Titel 
»111/99 – Fragen zur Gestaltungssprache der Moderne«. Zwölf Jahre liegen zwischen der Gründung der Reformbewegung Deutscher Werkbund 1907 und der stilbildenden Kunstschule Bauhaus 1919 – im Jahr 2018 wurde der Deutsche Werkbund 111 und das Bauhaus 99 Jahre alt. Die Jubiläumsdaten als Zahlenspiel aufgreifend, hinterfragt das Werkbundarchiv – Museum der Dinge die programmatischen Schnittmengen beider Institutionen in der Entwicklung einer Gestaltungssprache der Moderne.

Werkbundarchiv – Museum der Dinge
Öffnungszeiten: Donnerstag bis Montag, 12.00 – 19.00 Uhr
Oranienstraße 25, 10999 Berlin
+49 (0)30 / 92 10 63 -11

www.museumderdinge.de


Abbildungsverzeichnis: Abb. 2: Tortenplatte. Hersteller, Form, Dekor und Datierung unbekannt. Sammlung Stefan Bachmann, Berlin. Foto: Armin Herrmann, 2019. Abb. 3: Tortenplatte. Dekor: 1556, um 1930. Steingutfabrik Sörnewitz AG, Sörnewitz-Meissen. Sammlung Stefan Bachmann, Berlin. Foto: Armin Herrmann, 2019. Abb. 4: Tortenplatte. Dekor: 1212, um 1930. Steingutfabrik Theodor Paetsch, Frankfurt (Oder). Sammlung Stefan Bachmann, Berlin. Foto: Armin Herrmann, 2019. Abb. 5: Schale. Vermutl. C.E. Carstens, Elmshorner Steingutfabrik. Elmshorn um 1930. Sammlung Stefan Bachmann, Berlin. Foto: Armin Herrmann, 2019. Abb. 6: Zuckerdose. Form 489, Dekor unbekannt, ca. 1929. Steingutfabrik Villeroy & Boch, Wallerfangen. Sammlung Stefan Bachmann, Berlin. Foto: Armin Herrmann, 2019. Abb.7: Tortenplatte. Hersteller, Form, Dekor und Datierung unbekannt. Sammlung Ulrich Thomas, Berlin. Foto: Armin Herrmann, 2019. Abb. 8: Zuckerschale und Milchgießer aus Mokkaservice Hallesche Form auf rechteckigem Tablett (Laborporzellan). Entwurf: Marguerite Friedlaender, 1930. Staatliche Porzellan-Manufaktur Berlin (StPM, heute KPM). Sammlung Christoph Wowarra, Stuttgart. Foto: Armin Herrmann, 2019. Abb. 9: Konfektplatte mit sechs Schälchen. Entwurf: Gerhard Marcks, 1930. Staatliche Porzellan-Manufaktur Berlin (StPM, heute KPM). Sammlung Christoph Wowarra, Stuttgart. Foto: Armin Herrmann, 2019. Abb. 10: Tasse eines Teeservices. Entwurf: Margarete Heymann-Loebenstein. Haël-Werkstätten für künstlerische Keramik GmbH, Marwitz bei Velten, um 1929. Sammlung Werkbundarchiv – Museum der Dinge, Berlin. Foto: Armin Herrmann, 2019.