20200425 Christian Brueckner c Matthias Bothor und Elbtonal Percussion c Fritz Meffert 655x740DEUTSCHLANDS BERÜHMTESTER SPRECHER  IM NIKOLAISAAL, POTSDAM!

Wolfgang Mielke

Potsdam (Weltexpresso) - Der Nikolaisaal in Potsdam, - benannt nach der Potsdamer Nikolaikirche (von 1830 - 1850), einer Variation des Petersdoms in Rom (von 1506 - 1626), der St. Paul's Cathedral in London (von 1666 – 1708) oder des Panthéons in Paris (von 1764 – 1790) -, und nicht nach dem Schriftsteller der Aufklärung Friedrich Nicolai (1733 – 1811), was auch denkbar gewesen wäre, da Nicolai eine erste bedeutende Beschreibung der Stadt Potsdam in seinem Werk "Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam" in drei, jeweils erweiterten, Ausgaben vorlegte, (nämlich 1769, 1779 und 1786).

Von außen hat man den Eindruck eines Bürgerhauses. Der Saal, so denkt man zunächst, wird also ein mittlerer Festsaal in der Belétage des Gebäudes sein. Das ist aber nicht der Fall: Sondern man passiert dieses 'Bürgerhaus', - das ehemalige Gemeindehaus der Nikolaikirche, seit 1984 aber in städtischem Besitz und erst nach der Wende durch eine großzügige Spende von Potsdams Partnerstadt Bonn in der heutigen Form möglich gemacht -; passiert noch einen Innenhof und gelangt erst dann in den eigentlichen Nikolaisaal: Einen hochmodernen Veranstaltungsraum, langgestreckt wie der Konzertsaal der UdK in der Hardenbergstraße von Berlin, aber von breiterer, üppigerer Akustik, weiß gehalten, mit gerundeter Decke und an den Seiten buckelig – also genau der richtige Ort, um Herman Melvilles Jagd auf den weißen Pottwal "Moby Dick" anzuhören! - Das Foyer dagegen ist hoher, Kubus-artiger, hoher, eckiger Saal mit Seitengalerien, dunkel gehalten dagegen, sehr modern wirkend, fast wie eine Wartehalle eines luxuriösen Bahnhofs oder einer Universität.

Der Platz, den dieses Foyer bildet, ist voll, wie ein Marktplatz, das Haus ist – keine Frage! - gut besucht. Neben mir im weißen, teils bläulich beleuchteten Zuschauerraum sitzt eine junge Frau, die nicht, wie sie betont, wegen der Musik gekommen ist, sondern einzig und allein #"wegen der Stimme"#. - Schon kurze Zeit nach seinem Berufseinstieg wurde Christian Brückner "The Voice" / "Die Stimme" genannt; und es entstand 1976 bereits ein gleichlautender Porträtfilm über ihn. Er ist nicht nur der berühmteste deutsche Synchronsprecher, vor allem durch Robert De Niro, sondern er hat auch zahlreiche Dokumentationen gesprochen – und nicht zuletzt sozusagen die Weltliteratur. Denn seit dem Jahr 2000 betreibt Christian Brückner, zusammen mit seiner Frau, den Hör-Verlag "parlando", der seit 2017 vom Argon-Verlag übernommen wurde; das Programm wird aber nach wie vor von den Brückners bestimmt. Im parlando-Verlag erschien bereits 2006 eine dreißigstündige ungekürzte Lesung des "Moby Dick" durch Christian Brückner, den der Stoff seitdem nicht mehr losgelassen hat. In dem Publikumsgespräch nach der Aufführung erzählt er, dass er noch immer neue Entdeckungen in diesem Buch macht, plötzlich ihm Dinge oder Zusammenhänge auffallen oder bewußt werden, so dass die Beschäftigung mit diesem Stück Weltliteratur niemals langweilig-routinemäßig werden kann, sondern immer spannend und lebendig bleibt.

2006 wurde "Moby Dick" auch erstmals live aufgeführt und zwar im Hamburger Ernst-Deutsch-Theater, gemeinsam mit dem Hamburger Ensemble "Elbtonal Percussion", einer Gruppe von vier Musikern, die Trommeln, Becken, Schellen und andere Percussion-Instrumente spielen, ebenso wie zwei Marimba-Vibraphone, die teils, wie eine Geige, mit einem Bogen zum besonderen Klingen gebracht werden.

Herman Melville (1819 – 1891) wurde in New York geboren. Er ist ein Vierteljahr älter als Theodor Fontane (1819 – 1898), der zur Zeit der Entstehung von "Moby Dick" drauf und dran war, seinen Onkel und seine Tante begleitend, von Hamburg aus nach New York auszuwandern. (Es gäbe dann vermutlich "Wanderungen durch New York" ...) - Melville stammte von schottischen und niederländischen Vorfahren ab. Er gehört zu den weitgereisten Menschen des 19. Jahrhunderts. New York blieb aber immer wieder Mittelpunkt seines Lebens, wo er auch starb. Er liegt auf dem Woodlawn Cemetery (von 1863) in der Bronx begraben, der das New Yorker Stadtgebiet nach Norden hin abschließt. Auf diesem großen, absichtlich parkartig angelegten Friedhof, da er auch der Erholung der Lebenden dienen sollte, befinden sich neben seinem auch die Gräber von Miles Davis (1926 – 1991), des 'Kaufhauskönigs' Winfield Woolworth (1852 – 1919), des New York revolutionierenden Stadtplaners Robert Moses (1888 – 1981), das Grab von New Yorks berühmtem Bürgermeister Fiorello LaGuardia (1882 – 1947), das Grab des genialen Komponisten Irving Berlin (1888 – 1989) und das von Joseph Pulitzer (1847 – 1911), um nur diese wenigen zu nennen.

Herman Melvilles Vater, ein Kaufmann, verschuldete sich hoch, um der Familie einen großbürgerlichen Lebensstandard bieten zu können. 1830 ging seine Firma in Konkurs. Ein Jahr später, - er war 12 Jahre alt -, musste Herman Melville die Schule verlassen, um zum Unterhalt der Familie beizutragen. 1839, mit 20 Jahren, heuerte Herman Melville erstmals auf einem Schiff an, auf einem Postschiff, das zwischen New York und Liverpool, England, verkehrte. Bald darauf wurde er Lehrer an einer New Yorker Grundschule. Er gab diese Stelle aber bereits 1840 wieder auf. Am 3.1.1841 heuerte Melville erstmals auf einem Walfangschiff an. Die Arbeitsbedingungen waren aber dermaßen bedrückend, dass er bei erster Gelegenheit das Schiff verließ und flüchtete. Da er aber auf einer pazifischen Insel festsaß, musste er irgendwann wieder ein Schiff betreten, um in seine Heimat zurückzukommen. So heuerte er erneut an. Melville befuhr auf den verschiedenen Walfänger-Schiffen den Nord- und Süd-Pazifik und ebenso den Süd- und Nord-Atlantik, pendelte mit jeweiligen Aufenthalten zwischen Hawaii, Peru und Bosten, wo er sich im Oktober 1844 auch vorläufig abmustern ließ.

1846 schrieb Melville seinen ersten Roman "Typee" ("Taipi" in der deutschen Übersetzung) über seine Erlebnisse nach der Flucht auf der polynesischen Insel. 1847 folgte "Omoo" über seinen Auftenhalt auf Tahiti. Diese Abenteuer-Bücher verkauften sich gut. 1847 heiratete Melville in Boston Elizabeth Shaw, mit der er vier Kinder hatte, zwei Töchter, zwei Söhne, die sich sonderbarerweise beide, wenn auch mit großem zeitlichen Abstand, das Leben nahmen. - Die junge Familie siedelte sich in Pittsfield, an der Westgrenze von Massassachussets an. Ihr Haus nannte Melville "Arrowhead" ("Pfeilspitze"), in dem sie von 1850 bis 1863 lebten. Das Haus ist jetzt ein amerikanisches Nationaldenkmal und Museum. In diesem Haus schrieb Melville seinen heute berühmtesten Roman "Moby Dick" über das Walfangschiff "Pequod" und dessen Kapitän Ahab, dem ein Pottwal im Gefecht um sein Leben ein Bein abbeist und der fortan nur noch von einem einzigen Wunsch besselt wird, sich an diesem besonderen Wal, diesem weißen Pottwal zu rächen, ihn zu jagen, ihn zu vernichten. Die Erstausgabe von "Moby-Dick" erschien 1851 in London; kurz darauf auch in New York.

Das Buch kam in den USA aber überhaupt nicht an. Das mag an religionskritischen Stellen gelegen haben, die in der Londoner Ausgabe gekürzt waren. Es mag auch daran liegen, dass Melvilles Leser Abenteuer-Romane von ihm gewohnt waren – und nicht ein teils wissenschaftliches, teils philosophisch-ausurferndes Buch, das durch diese Zusätze zwar außergewöhnlich bereichert, aber dessen Handlungsverlauf auf diese Weise auch immer wieder abgelenkt wird. - Erst nach Melvilles Tod begann die Bewertung dieses Buches allmählich günstiger zu werden, vor allem nach dem 1. Weltkrieg, in den 1920er Jahren.

1851 hatte Melville an seinen Londoner Verleger geschrieben: #"Im kommenden Spätherbst sollte ich mit einem neuen Werk fertig sein"#, das #"auf gewissen wilden Legenden aus den Pottwalfanggebieten im Süden gründet, ausgeschmückt mit den eigenen persönlichen Erfahrungen des Autors aus seiner mehr als zweijährigen Zeit als Harpunier (...) Ich wüsste nicht, dass das behandelte Thema jemals von einem Romancier, ja überhaupt von irgendeinem Schriftsteller in angemessener Weise bearbeitet worden wäre."# - Nun wurden diese große Leistung und das ganz Besondere dieses Romans allmählich erkannt. - Während ihrer Stammheimer Haft nutzte Gudrun Ensslin (1940 – 1977) ihre Kenntnis dieses Romans, um daraus jedem der mitinhaftierten RAF-Mitglieder für die Geheimkorrespondenz einen Code-Namen zu geben. Ihre Lage wird sie mit der von Kapitän Ahab vergleichbar gefunden haben. - Das zeigt, dass der Roman "Moby Dick" mittlerweile zu einer Art Kult-Roman geworden war.

Ähnlich verhielt es sich auch mit den deutschen Übersetzungen, jedenfalls wie es im Wikipedia-Eintrag dargestellt wird. Die erste Übersetzung, die dort angegeben wird, stammt von Wilhelm Strüver aus dem Jahr 1927, ist sprachlich besonders reich, - wobei hier allerdings nur durch eine recht kurze Passage geurteilt werden kann -, erhält aber von Dieter E(durard) Zimmer (*1934), einem sehr bekannten Übersetzer, das vernichtende Urteil: #"Sie drückt vor allem eins aus: Verachtung für den übersetzten Text. Fast zwei Drittel fand dieser dolmetschende Zensor offenbar so schlecht, dass er sie ganz wegließ."# - So geht es schließlich vor allem um den Vergleich der Übersetzung durch Matthias Jendis (1959 – 2009) aus dem Jahre 2001; und um die Übersetzung durch Friedhelm Rathjen (*1958), die eckiger ist, sperriger, dem Original verwandter, die auch Christian Brückner für sein Hörbuch und für seine Rezitationen ausgewählt - und den Text für seinen Zweck selbst eingerichtet - hat.

Es ist spannend, nachzulesen, wie Dieter E. Zimmer diese beiden Übersetzungen vergleicht:

#"Welche der beiden Übersetzungen des folgenden Satzes ist genauer, welche adäquater?

But the Pequod was only making a passage now; not regularly cruising; nearly all whaling preparatives needing supervision the mates were fully competent to, so that there was little or nothing, out of himself, to employ or excite Ahab, now; and thus chase away, for that one interval, the clouds that layer upon layer were piled upon his brow, as ever all clouds choose the loftiest peaks to pile themselves on. (Kapitel 28)

Aber die Pequod befand sich jetzt erst auf Passage; kreuzte nicht regulär; beinah aller Walfangvorbereitungen, die der Oberaufsicht bedurften, waren die Maate voll und ganz befähigt, so daß es da nun wenig oder gar nichts gab, um Ahab weg von sich selbst zu beschäftigen oder aufzuregen; und solchermaßen wenigstens für dieses Zwischenspiel die Wolken fortzujagen, die sich Schicht auf Schicht auf seiner Stirne türmten, wie immerdar alle Wolken die erhabensten Gipfel wählen, um sich daran aufzutürmen. (Rathjen)

Aber die Pequod befand sich jetzt bloß auf der Überfahrt; sie kreuzte nicht in den Fanggründen, und fast alle Vorbereitungen für den Walfang, die der Aufsicht bedurften, konnten bestens von den Steuerleuten erledigt werden, so daß es außer ihm selbst zur Zeit kaum etwas gab, das Ahab Arbeit oder Ablenkung hätte verschaffen und wenigstens vorübergehend das Gewölk hätte vertreiben können, das Schicht um Schicht auf seiner Stirne lag, so wie die Wolken stets die erhabensten Gipfel wählen, um sich an ihnen zu ballen. (Jendis)

Beide Übersetzungen geben den Sinn des Satzes vollständig und im Großen und Ganzen richtig wieder. Aber kein Zweifel, Rathjen ist genauer; er bildet sogar seine Syntax und Interpunktion nach. Jendis dagegen ist "explikativ" (etwa wenn er in den Fanggründen hinzufügt), er wählt das elegante Synonym (lag, ballte statt zweimal türmen). Andererseits ist Rathjens größere Wortgenauigkeit des öfteren nur vorgetäuscht. Die wörtlichste Übersetzung von to pile wäre häufen, nicht türmen, supervision wäre mit Aufsicht (statt Oberaufsicht) richtiger und dazu wörtlicher übersetzt, und kreuzte regulär tut zwar so, als wäre es wortgenau, aber regulär ist nichts als ein ein "faux ami" von regularly und trifft dessen Bedeutung nicht wirklich. Der unübersehbare Hauptunterschied zwischen beiden Fassungen besteht jedoch darin, dass die von Jendis in der Tat gut lesbar ist, die von Rathjen nur mit etlicher Mühe; Lesern, die das sprachlich Ausgefallenere suchen, werden sie gerade darum vorziehen. Sind Jendis und der Hanser Verlag also einer "falsch verstandenen Lesbarkeit" aufgesessen?

(...)

Ein richtiger Übersetzer (...) Als Erstes fragt er: Was bedeutet dieser Satz? Im Kopf, nicht auf dem Papier erzeugt er sich mit allen ihm zu Gebote stehenden Hilfsmitteln eine vollständige Bedeutung des Satzes, in der einzelne Wörter nur sozusagen als Platzhalter fungieren. Als Zweites stellt er die entscheidende Frage, die der Stümper niemals stellt: Und wie sagt man das nun auf Deutsch? Da die Sprachen einzelne Bedeutungen mit ganz verschiedenen Mitteln ausdrücken, muss er sich an diesem Punkt oft von den Wörtern, der Idiomatik und der Grammatik des Originals lösen. So kommt er immerhin zu einer näherungsweise "richtigen" Übersetzung.

Der wahre Könner begnügt sich nicht mit der Abbildung der Bedeutung. Er versucht auch, die Sprachtextur abzubilden, und stellt sich sofort eine dritte Frage: Sagt "man" es in der Quellsprache eigentlich so wie in der Vorlage? Wie weit und in welche Richtung weicht diese von der heutigen Normalsprache ab? Und dann versucht er, seinem Text die gleiche Distanz einzubauen.

Rathjens Übersetzung wirkt wie ein Versuch, die zweite Frage ("wie sagt man das auf Deutsch?") unbedingt zu vermeiden. Er geht davon aus, Melvilles Text sei "eigenwillig, dunkel, ungehobelt; fremd", "handwerklich völlig verkorkst", und unternimmt es, das Befremdende an der Sprache des Moby-Dick in ein ebenso befremdendes, verkorkstes Deutsch zu überführen. Tatsächlich ist vieles im englischen Moby-Dick gewollt und ungewollt befremdlich. Aber so radikal befremdlich, wie Rathjen meint und wie sich seine Übersetzung nun liest, ist Melville keineswegs und wirkte er auch auf die Leser seiner Zeit nicht. Wäre er es gewesen, so wäre er als jemand, der ein durch und durch verkorkstes Englisch schrieb, nie gedruckt worden. Aller Walfangvorbereitungen befähigt (für fully competent to all whaling preparatives), weg von sich selbst (für out of himself) – in der Tat ist Melvilles Satz nicht ganz geheuer gebaut, aber so schwer verständlich und vermurkst wie bei Rathjen ist er nicht. Seine Fassung führt Melvilles stilistische Unebenheiten wie unter der Lupe vor, als gälte es den Nachweis, dass Melville ein durch und durch miserabler Schriftsteller war.

Das heißt, Rathjen hat jene Distanz falsch eingestellt, und seine extrem genaue Übersetzung ist ebendarin ungenau und darum inadäquat. Er, der das Dogma vertritt, der Übersetzer dürfe "keine eigene Sprache haben", sondern müsse sich der des jeweiligen Buches anverwandeln, produziert in einem fort ein höchst idiosynkratisches Deutsch, das niemand je gesprochen oder geschrieben hat oder schreiben wird. Seine Sprache macht ihn als Übersetzer nicht so unsichtbar, wie ihm das vorgeschwebt hat, sie macht ihn vielmehr extrem sichtbar; nach drei Zeilen erkennt man schon: Ah, das kann nur Rathjen sein bei seinem dogmatischen Versuch, wortgenau zu übersetzen. Als Übersetzer ist er das Gegenteil des Stümpers, aber im Effekt ist seine gedankenvolle Hand an vielen Stellen von dessen gedankenloser Pranke leider nicht zu unterscheiden. Auf den ersten drei Seiten eines zentralen Kapitels (41) etwa fährt er auf: Walkreuzer (whale-cruiser), weggefiert (lowered the boats), waren weit herumgegangen (had gone far to), umgruseln (horrify), Abergläubigkeit (superstitiousness), halbausgebildete fötale Mutmaßungen übernatürlicher Agentschaften (half-formed foetal suggestions of supernatural agencies), vitalere praktische Einflüsse (vital practical influences) – zur Hälfte inadäquat, zur Hälfte rundheraus falsch. Wie nennt man das? Eine pestilenzliche Fopperei (plaguey juggling)?

Nein, "schlecht" im normalen Sinn ist Rathjens Übersetzung nicht, dazu ist sie zu reich an durchaus glücklichen Trouvaillen. Sie ist jenseits von Gut und Böse – ein Irrtum. Die endgültige, vollkommene Übersetzung gibt es nicht; eine für alle Fälle richtige Übersetzungstheorie ebenso wenig. Übersetzen sollte nicht als ein dogmatisches, sondern als ein pragmatisches Geschäft betrieben werden; es sollte sich nicht zu schade sein für die Frage: Wozu? Rathjens Moby-Dick hat keine ersichtliche Funktion. Wer sich Melvilles Text so nahe besehen will, wie Rathjen ihn heranzuholen meint, braucht keine Übersetzung und täte besser daran, sich an das Original zu halten.

Der Hanser Verlag handelte also nicht unmoralisch und opportunistisch, als er vor der Veröffentlichung zurückschreckte. Die vergleichsweise konventionelle Übersetzung von Matthias Jendis ist den älteren sehr viel ähnlicher, von denen einige (vor allem die von Güttinger, den Seifferts und von Mummendey) gar nicht übel waren, aber sie merzt nicht nur deren kumulierte Schnitzer aus – nichts Geringes! –, sondern ist genauer, vor allem bei der nautischen Terminologie, der Markierung des historischen Sprachzustands, den essayistischen Exkursionen. Gewiss schönt auch sie das Original. Aber das will mir verzeihlicher vorkommen als dessen systematische und dogmatische Verholperung und Verhässlichung."

Soweit Dieter E. Zimmer.

Ein Aspekt, der in seiner Wertung allerdings fehlt (und auch fehlen darf), ist die Frage nach der besseren theatralischen Verwendbarkeit. Und hier ist die Entscheidung Christian Brückners für die sperrigere, meinetwegen auch holperige und verhässlichte Fassung Rathjens richtig, weil sie ihn als Schauspieler stärker fordert, weil sie seinen Vortrag wegbringt aus der Gefahr einer Märchenerzählung, weil Rathjens Eckigkeit eine größere Bühnenlebendigkeit mitbringt.

Diese Bühnentauglichkeit wurde im Potsdamer Nikolaisaal (und wäre es in jedem anderen Theater ebenso gewesen) durchaus deutlich. Gerade auch im Wechsel mit der Percussion-Arbeit von "Elbtonal". Rhythmus also in der Sprache und in der Musik sowieso. Aber auch Weichheit. Der Geigenbogen wurde schon erwähnt. Die Musik des Abends ist sowohl eigenständig, als auch auf die Textpassagen bezogen. Man sieht hörend die Wale vor sich, wie sie sich sammeln und wappnen gegen die Angriffe der Menschen. Es ist ja zunächst der Mensch, der hier raubend in die Natur eingreift. Aber Melville hat es verstanden, - das notierte ich mir ins Programmheft -, #"das Verbrechen der Menschen an den Tieren zu relativieren; so, als sei Ahabs 'Rache' berechtigt; als seien eigentlich die Menschen die Opfer, nicht umgekehrt."# ---

Auf die Rache Ahabs an dem weißen Pottwal "Moby Dick" läuft es am Ende hinaus. Das Buch steigert sich immer mehr dahin. Ahab muss immer wieder seine Mannschaft zu dieser für die Walfischer wirtschaftlich unsinnigen Jagd animieren. Sein Wahn steigert sich und steigert ihn. Ahab wird zum reinen Rachegeist, Rachetrieb, manche sagen: Zu einer mythischen Gestalt. Sein unbedingtes Fordern erinnert an den Faust in Goethes (1749 – 1832) "Faust II", der, blind geworden - wie Ahab zum humpelnden Krüppel, ruft:

#"Vom Lager auf, ihr Knechte! Mann für Mann!(...)
Ergreift das Werkzeug, Schaufel rührt und Spaten!
(...)
Dass sich das größte Werk vollende,
Genügt e i n Geist für tausend Hände."

Und zu Mephisto sagt er kurz darauf:

#"Arbeiter schaffe Meng' auf Menge,
Ermuntere mit Genuss und Strenge,
Bezahle, locke, presse bei!
(...)
Das letzte wär' das Höchsterrungene."#
(V. Akt, Szenen 'Mitternacht' und 'Großer Vorhof des Palasts'.)

So rast auch Ahab gegen seinen Gegner "Moby Dick" an. Diese ungeheuere Szene des Kampfes und schließlich des Kenterns und Unterganges seines Schiffes hat Herman Melville dem Untergang der "Essex" im Pazifik nachgebildet, die am 20.11.1820 durch ein Gefecht mit Pottwalen, die das Schiff mit riesiger Kraft gerammt hatten, schließlich nach zwei Tagen Schlagseite sank. Die Besatzung rettete sich in drei kleine Walfangboote, aber nur wenige überlebten den Untergang ihres Schiffes, (nämlich 8 von 21 Mann, die sich teils nur dadurch über Monate auf dem Weltmeer hatten retten können, indem sie die Gestorbenen unter ihnen verzehrten). Der damalige erste Maat Owen Chase (1797 - 1869) schrieb 1821 seine Erinnerungen an diesen Untergang auf. Der damalige Schiffsjunge Thomas Nickerson (1805 – 1883) folgte ihm, auf Mahnung seiner Zeitgenossen, 1876. Seine Aufzeichnungen und Zeichnungen aber wurden 1960 wieder entdeckt und erst 1984 publiziert. Owen Chase's Aufzeichnungen dagegen lernte Herman Melville bereits 1841 kennen, weil er auf einem Walfangschiff William Chase, dem 16jährigen Sohn von Owen Chase, begegnete, der ihm die Aufzeichnungen seines Vaters lieh.

Agieren "Elbtonal" und Christian Brückner während der ersten Hälfte des Abends voneinander abgesetzt, so überlappen sich beide Anteile nun im zweiten Teil, sich steigernd noch, wo die fanatische Jagd Ahabs auf "Moby Dick" geschildert wird. Der Text wird jetzt auf das Percussion-Getöse gesprochen, stark, gesteigert, ausbrechend und gestisch! Das ist der lange Höhepunkt des Abends – und bleibt jedem im Gedächtnis.

Nachher bildet sich eine lange Schlange, um sich CD's und Programmhefte von Christian Brückner signieren zu lassen ...

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Info:
Christian Brückner & Elbtonal Percussion, 25.1.2020, 20 Uhr, Nikolaisaal Potsdam, Großer Saal