Wolfgang Mielke
Hamburg (Weltexpresso) - Das Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg, das größte Privattheater Deutschlands, hat wenige Tage nach der Premiere von Georg Büchners (1813 – 1837) Schauspiel "Leonce und Lena" (12.3.2020) - wie alle Theater- und Opernhäuser unseres Landes - die Tore geschlossen, um die weitere Verbreitung der Corona-Viren zu behindern. Die Dauer dieser Schließung ist ungewiss.
Schlagen die Einsperr-Maßnahmen der Bevölkerung an, verlangsamt sich die Verbreitung des Virus', wird man diese Maßnahmen lockern können – oder gerade, weil sie sich bewährt haben, beibehalten; - so lange, bis ein Impfstoff gefunden ist, mit dem man diesem Virus wirkungsvoll begegnen kann. Das kann Monate dauern, ein Jahr, vielleicht eineinhalb Jahre. Völlig ungewiss.
Viele Unternehmungen werden über diese Krise kaputt gehen, Förderung hin, Fördungsabsicht her. - Das Ernst-Deutsch-Theater, da bin ich mir sicher, wird überleben! - Auch darum jetzt dieser Bericht über eine Inszenierung, die augenblicklich niemand mehr sehen kann; um deutlich zu machen, dass es sich hier nicht um einen Wirtschaftszweig handelt, auf den wir in Zukunft verzichten können. Das Theater ist so alt wie die Menschheit, es dürfte also diese Delle aushalten. Die gegenwärtig abgebrochenen Vorstellungen werden vielleicht in der Zukunft wieder aufgenommen werden. Und zu recht. Denn das, was zu sehen war, hat immerhin dazu geführt, sich mit dem Fall Georg Büchner wieder einmal zu beschäftigen.
Die Theater sind also geschlossen, doch seitdem bietet sich uns ein ganz anderes, viel umfassenderes Schauspiel dar, nämlich wie schnell ein Land von 100 auf 20 oder noch weniger Prozent zurückgeschrumpft werden kann; - und das innerhalb von Tagen! -
Die beste Aufführung von "Leonce und Lena", die ich sah, war die Inszenierung von Robert Wilson (*1941) am Berliner Ensemble, Premiere 2003, mit der Musik von Herbert Grönemeyer (*1956), die in opulenten Bildern stark auf das Optische hin inszeniert war; ein Zusammenklang von Bild, Musik und dazwischen der spitz eingestreuten Sprache. Walter Schmidinger (1933 – 2013) spielte damals den König; Angela Schmid (*1936) die Gouvernante; und Stefan Kurt (*1959) den Valerio. - Die Darsteller der Hauptfiguren habe ich vergessen; den Leonce nur noch schwach schemenhaft in Erinnerung. Die Lena spielte, - ich musste das nachsehen -, Nina Hoss (*1975), die im Film beweglich und sportiv wirkt, auf der Bühne sonderbarerweise dagegen statisch unbeweglich, 'wie eine Litfaßsäule', dachte ich. - (Ein vergleichbares Phänomen beobachtete ich auch bei Martina Gedeck (*1961), die im Film graziös und leicht wirkt, auf der Bühne dagegen tappsig, schwerfällig. - Sonderbare Phänomene! -) -
"Leonce und Lena" wurde von Büchner als Wettbewerbs-Beitrag geschrieben, von Juni bis Anfang September 1836, und dann eingereicht; aber der Einsendeschluss war schon Ende August gewesen; der Verlag Cotta (1659 gegründet; seit 1977 Klett-Cotta) schickte das Stück an Büchner ungeöffnet zurück. - Die Uraufführung fand erst am 1.5.1895 in München statt. - Der Forderung des Preisausschreibens nach musste das Stück ein #"Lustspiel"# sein; und so hat Büchner sein Stück auch überschrieben.
Büchner litt unter den herrschenden politischen Verhältnissen seiner Zeit. Das ist bekannt. Hans Mayer (1907 – 2001) schreibt über Büchner und "Leonce und Lena": #"(...) es bleibt (...) die Frage, wie jenes romantische Lustspiel in den unromantischen Gesamtrahmen von Büchners Leben und Werk hineingeraten konnte."# Und: #"Größerer Missklang ist nicht denkbar als hier zwischen Büchners sonstiger Lehre, der Gesamtanlage seines Werks – und diesem ironisch-romantischen Spiel von den beiden Königskindern."# -
Von dem Preisausschreiben hoffte sich Büchner hoffte die Aufbesserung seiner recht klammen finanziellen Verhältnisse. Ob ihm ein Gewinn zugefallen wäre, ist allerdings fraglich, umso mehr, wenn man über den ersten Eindruck liest, den das Werk auf Hans Mayer machte: #"Der erste Eindruck des Werkes ist eher negativ. Alles in Büchners Lustspiel scheint aus zweiter, wenn nicht dritter Hand: Handlung, Stimmung, entlehnter Witz und 'tiefere Bedeutung' (...) stammen aus einer Art 'chemischer Destillation', die gewisse Dosen Cervantes und andere Gewürze des spanischen Theaters mit Ingredienzien aus Shakespeare hatte mischen wollen. Dabei war man höchst gelehrt, aber auch höchst pedantisch vorgegangen. Das Produkt verfehlte denn auch niemals, ein Homunkulus zu sein."# Und weiter: #"Nirgendwo sonst ist das Nichts-als-Wirkliche so sehr verachtet, strebt alles so zur Flucht, zur Erhebung über die Realität mit den Mitteln autonomer Kunst, eingebildeter, ausgedachter Gesetzlichkeit."# - Man vergegenwärtige sich Leonces Satz: "O wer sich einmal auf den Kopf sehen könnte! Das ist eins von meinen Idealen. (Mir wäre geholfen.)" - Hans Mayer: #"Nicht die Gesetze der Kausalität oder des Zweckes haben hier Geltung, der Natur und des menschlichen Zusammenlebens, sondern jene eines sich autonom dünkenden Geistes. Mag es sich um Traum oder Symbol, um Märchen oder Ironie handeln: immer steht man außerhalb des Realen, lebt man im – Idealen. Büchner, Verkünder einer streng wirklichkeitsnahen Kunstlehre, lebt mit seinem Spiel von Leonce und Lena plötzlich in idealistischer Sphäre."# -
Das trifft auch deutlich auf die Figuren der Handlung zu: #"Die Prinzessin ist nur mehr Mondstrahl und Melodie: ihre Annäherung an Leonce vollzieht sich in unwirklicher Weise. Es suchen und finden sich korrespondierende Lichtreflexe und Akkorde, nicht menschliche Wesen. Echter und folgerichtiger als dieser grundsätzliche Nichtromantiker Büchner hat wohl keiner das romantische Gebot der Entmaterialisierung und Verzauberung der Welt in Gestaltung umsetzen können."#
Manches davon findet sich auch jetzt in der Inszenierung von Mona Kraushaar: Vor allem das Puppenhafte, Unwirkliche der Figuren; durch Positionierung im Raum; durch Kleidung; durch ein entrückendes, weiß geschminktes Gesicht. - Dabei ist Büchners Stück nicht nur wirklichkeitsfremde Flucht oder Flucht aus der Wirklichkeit in einen verzückten Romantizismus. Den "Lichtreflexen" und "Akkorden", also den beiden idealistisch-romantischen Hauptfiguren Leonce und Lena, sind realistisch-derbe oder realistisch-altjüngferlich-zickige Figuren an die Seite gestellt, um den Kontrast zwischen romantischer Weltferne und Lebensunwirklichkeit, Lebensuntüchtigkeit vielleicht, und dem zweckgebundenen 'Leben an sich', dem Realismus, deutlich zu machen, nämlich die Buffo-Figur des Valerio, des Gefährten des Prinzen Leonce, und der Gouvernante der Prinzessin Lena. -
Schon das Motto, das Büchner seinem Stück gegeben hat, lässt diese Aufteilung in Idealismus und Realismus oder auch Materialismus ahnen: #"E la fama?"# - lässt er Vittorio Alfieri (1749 – 1803) fragen; und gleich danach Carlo Gozzi (1720 – 1806): #"E la fame?"# - Das bedeutet: #"Und die Geschichte? Die Fabel des Stückes?"#, also Handlung und theoretischer Aufbau. Dagegen: #"Und der Hunger?"# - Büchner schreibt an den Schriftsteller Karl Gutzkow (1811 – 1878), seinen ersten Förderer, 1836 aus seinem Exil in Straßburg: #"Die Gesellschaft mittels einer# Idee,# von der# gebildeten# Klasse aus reformieren? Unmöglich! Unsere Zeit ist rein# materiell# (...) Sie werden nie über den Riss zwischen der gebildeten und ungebildeten Gesellschaft hinauskommen."#
Schon ein Jahr zuvor hatte er an Gutzkow geschrieben: #"(...) das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt, der Hunger allein kann die Freiheitsgöttin und nur ein Moses, der uns die sieben ägyptischen Plagen auf den Hals schickte, könnte ein Messias werden. Mästen Sie die Bauern, und die Revolution bekommt die Apoplexie. Ein# Huhn# im Topf jedes Bauern macht den gallischen# Hahn# verenden."# - Der "gallische Hahn" = der französische Hahn, das Nationalsymbol, also auch die Revolution. Die Französische Revolution von 1789 hatte Büchner nicht miterlebt; aber die Juli-Revolution von 1830. Während seines Studiums in Straßburg, dann Gießen und Darmstadt geriet er selbst in einen revolutionären Oppostionskreis, gab den revolutionären "Hessischen Landboten" heraus, wurde verraten, steckbrieflich gesucht – und floh ins Elsaß nach Straßburg und siedelte ein halbes Jahr später, im Herbst 1836, nach Zürich um, wo ihm eine bedeutende wissenschaftliche, medizinisch-biologische Karriere offengestanden hätte, wäre er nicht am 19.2.1837 an Typhus gestorben.
FORTSETZUNG FOLGT
Fotos:
Titel © Ernst Deutsch Theater
Text: W.M.