Hanswerner Kruse
Kassel (Weltexpresso) - Nach langer Corona-Pause begann das Kasseler Staatstheater mit einem Wandel des Ballettbereichs und spektakulären Tanz-Aufführungen. An einem Doppeltanzabend wurde „Schwanensee“, der schnulzig gewordene Klassiker, von Gast-Choreografinnen kunstvoll seziert auf die Bühne gebracht.
Im „Zwanenmeer“ bewegt sich ein Teil der Kasseler Compagnie, mit über den Köpfen gezogenen weißen Kleidern, zu seltsamen Klängen auf der Bühne. Im Vordergrund bemüht sich eine Ballerina mit Ballettgetrippel weiße Schwänin zu sein. Dann überwältigt die dämonische, als böse geltende schwarze Schwänin das Publikum mit ihrem atemberaubenden Solo: Leva Navickaitė erzählt eine gefühlte Viertelstunde lang, wie sie sich als schwarze Schwänin bewegen würde - und performt es zugleich mit schwierigen Ballettfiguren und neuen akrobatischen Kapriolen. Schließlich erscheinen sieben Tanzende in Unterwäsche und Gummistiefeln und fauchen sie an wie empörte Schwäne.
Säckeweise werden weiße Federn verstreut, zwischen denen Tänzerinnen und Tänzer beweisen, dass sie den Spitzentanz noch perfekt beherrschen, bevor sie ihn in freien Figuren auflösen. Einmal illuminiert die Truppe ihre bizarren Bewegungen mit Taschenlampen - und leuchtet dann ins (voyeuristische?) Publikum, das die plötzlich nackten Schattenwesen kaum noch erkennen kann. Zu allem hört man durchgehend den auf der Bühne erzeugten Sound (Pauline Roelant), sieht Videos und Lichtspiele, welche die Tanzperformance zu einem Gesamtkunstwerk verdichten. Die Darbietungen sind häufig komisch - aber bei tänzerischer Virtuosität auf allerhöchstem Niveau. Persiflage kann ästhetisch sein, gerade wenn sie so vollkommen inszeniert wird wie von den niederländischen „United Cowboys“ (Pauline Roelants und Marten van der Put).
Zuvor präsentierte an diesem Abend die israelische Choreografin Roni Chadash ihre stark reduzierte Version des Ballett-Klassikers. Ausschließlich in Alltagskleidung bewegen und begegnen sich die Tanzenden, frieren in dramatischen Positionen zu Tschaikowskis Ballettmusik ein. Behutsam lösen sich manche aus den pathetischen Korsetts der Pas de Deux, lassen ihr Gegenüber alleine stehen. Andere tragen oder zerren Eingefrorene weg, tauschen sie aus oder fügen sich selbst irgendwo wieder ein. Im spiegelnden Tanzboden werden die Bewegungsbilder fantastisch verdoppelt.
Längst ist Stille, doch die Tanzenden rennen weiter, ihre Körper klatschen und klatschen unaufhörlich gegeneinander. Erneut ertönt Tschaikowski, das Ensemble formt sich zu obszönen, albernen oder bedrückenden Gruppenbildern, aus denen sich Einzelne immer wieder befreien. Geschichten werden tänzerisch angedeutet, kämpferische Posen und jämmerliche Allüren gezeigt. Die echten und falschen Gefühle aus „Schwanensee“ werden zelebriert, aufgelöst und neu gemischt. Das Stück ist keine billige Provokation, sondern das Ballett wird einfach zeitgemäß interpretiert und anders getanzt.
In den letzten Jahren gab es viel Kritik am klassischen „Schwanensee“, der in seiner Aufführungsgeschichte zunehmend popularisiert und verflachte wurde. Farbige Tänzerinnen wehrten sich gegen das Weißschminken, die sexistische Entwicklung des Stücks wurde verurteilt. Doch das Publikum braucht keine Angst vor gesellschaftskritischer Überfrachtung zu haben: Beide Inszenierungen bewegen sich im Rahmen andauernder tanz-interner Selbstreflexion und Erneuerung.
Foto:
TANZ_KASSEL © KH. Mierke
Oben/Mitte „Zwanenmeer“
Info:
„Schwanensee“ weitere Termine bis Januar 2022 www.staatstheater-kassel.de
TANZ_KASSEL
hat keinen Choreografen mehr und arbeitet „ohne althergebrachte hierarchische Führungsmodelle.“ Gäste inszenieren Stücke mit dem Ensemble oder kommen mit eigener Compagnie. Sie sprengen Spartengrenzen zu Oper und Theater oder entdecken neue Spielorte wie das Fridericianum. Als Gastspiel präsentierte Inszenatorin Florentina Holzinger soeben ihre skandalumwitterte Version von Dantes „Göttlicher Komödie, die erst im Frühjahr wieder zu sehen ist.
Verlangt wird „zeitgenössischer Tanz muss in die soziale, politische, gesellschaftliche Welt, die ihn umgibt, eingreifen.“ Das ist nichts Neues, denn die Pioniere des Tanztheaters - von Pina Bausch bis Johann Kresnik - und ihre Nachfolger versuchen das bereits seit einem halben Jahrhundert. Auch in Kassel war das zehn Jahre lang selbstverständlich. Mit modischen Floskeln wird dazu „Diversität ohne eurozentrischen Fokus“ oder Offenheit des Tanzes für „Experten des Alltags“ gefordert. (Zitate: Staatstheater Kassel, Spartengespräch)
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Der Stuttgarter Choreograf Eric Gauthier schuf im letzten Lockdown mit internationalen Kunstschaffenden zeitgenössische Versionen des „Sterbenden Schwans“. Die individuellen Tanzsolos der 16 Mitglieder seiner Compagnie, von jeweils 3 - 4 Minuten, wurden für die Kamera entwickelt und sind bei 3Sat sehen.
Zum „The Dying Swans Project“