Andreas Mink
New York (Weltexpresso) - Vor acht Tagen hatte Stephen Sondheim der «New York Times» noch in seinem Haus im ländlichen Roxbury, Connecticut, ein ausführliches Interview gegeben. Von Fachleuten durchwegs als der wichtigste und einflussreichste Komponist und vor allem Lyriker des Musicals in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingestuft, war Sondheim dabei von einem verstauchten Fussgelenk abgesehen in bester Laune und anscheinend auch bester Verfassung. Zu froher Stimmung hatte Sondheim Anlass genug.
Er arbeitete an der Fertigstellung eines Projektes auf Grundlage von zwei Luis Bunuel-Filmen, hatte gerade am Broadway die Wiederaufführung seines Musicals «Assassin» gesehen und in wenigen Wochen soll Steven Spielbergs Kino-Version der «West Side Story» Premiere feiern. Sondheim hatte den Film bereits gesehen und war damit hoch zufrieden – dies trotz seiner bekannten Abneigung gegen Film-Musicals (Link).
Doch am Freitagfrüh ist Sondheim verstorben. Freunde und sein Lebensgefährte Jeff Romley waren davon überrascht. Eine konkrete Todesursache wurde bis anhin nicht bekannt. Allein die «New York Times» hat ihn auf drei vollen Seiten gewürdigt. Am Sonntag konnten New Yorker bei einem Konzert seiner Werke am Times Square Abschied von dem Sohn eines gutbürgerlichen, jüdischen Paares aus der Hudson Metropole nehmen (Link).
Sondheim gehört neben Irving Berlin, Cole Porter, Frank Loesser, Jerry Herman und Noël Coward zu einer ganz kleinen Gruppe von Broadway-Grössen, die zu eigenen Kompositionen auch die Texte schufen (oder umgekehrt). Die Nachrufe stimmen auch darin überein, dass Sondheim zwar mit «West Side Story» (1957), «Gipsy» (1959) oder «A Funny Thing Happened on the Way to the Forum» (1962) grosse Publikumserfolge feiern konnte, die dann auch verfilmt wurden und weltweit bis heute aufgeführt werden. Aber er war doch mehr noch ein nimmermüder Innovator, der die Grenzen des Genres aufgebrochen und dem Musical dadurch auch eine neue, gesellschaftliche Relevanz als Plattform zur Verhandlung schwieriger Themen gegeben hat. So handelt «Assassins» von politischen Mördern und «Sweeney Todd» bringt die makabre Geschichte eines kannibalistischen Mörder-Paares im viktorianischen London auf die Bühne.
Der Kritiker Mark Harris leitet diese Qualitäten davon ab, dass Sondheim neben einer immensen Begabung für Wortspiele und Reime «schwul und jüdisch» gewesen sei. Doch hat ihn dies im Amerika seiner Jugend zweifellos zum Aussenseiter gemacht, trug er zudem am Ballast einer schwierigen Kindheit. Der Vater verliess die Mutter Etta in Sondheims zehntem Lebensjahr. Sie hatte das Einzelkind derart drangsaliert, dass er 1999 nicht an Ettas Beerdigung teilnahm. Trotz fruchtbarer, beruflicher Kollaborationen, war Sondheim persönlich lange ein Einzelgänger.
Dennoch brachte ihn die Freundschaft Ettas zu der Frau Oscar Hammersteins II als Junge in Kontakt mit der Familie des legendären Broadway-Autors, der dann zu einem Mentor und Ersatz-Vater wurde. Hammerstein war jedoch ganz Profi, als er erste Gehversuche des Teenagers Sondheim harsch kritisierte. Daraus wurden Fachlektionen und Aufgaben wie die Adaption eines Bühnenstücks als Musical, die Sondheim dann über Jahre und letztlich zur Zufriedenheit des Meisters lösen konnte (Link).
War Hammerstein also hilfreich, dann primär in der Aufklärung, dass Genies auch am Broadway nicht vom Himmel fallen. Sondheim entwickelte daher als Schüler an einer Militär-Akademie und einem von Quäkern geführten Internat, vor allem aber während und nach einem Studium am elitären Williams College in Massachusetts einen ausserordentlichen Lerneifer und studierte bei führenden Komponisten und Musik-Theoretikern. Er war daher schon als junger Mann in der europäischen Klassik ebenso bewandert, wie in der künstlerischen Avantgarde. Und auch wenn seit den 1980er Jahren eingängigere Werke wie «Cats» oder auf Disney-Filmen basierende Produktionen deutlich grössere Umsätze generieren, geht die Kritik, er sei «verkopft» und seinem Werk mangele es an Gefühlen und Ohrwürmern, doch an seinem Oeuvre vorbei.
Dass er emotionale Abgründe in intellektuell anregende Worte und eingängige Melodien zu giessen vermochte, zeigen Publikums-Favoriten wie «Anyone Can Whistle», «Our Time» und sein wohl bekanntester Song: «Send In the Clowns». Konventionell oder Sentimental seien Sondheim-Songs gleichwohl nie gewesen, wie die Broadway-Kennerin Monika Ziegler an einem Telefon-Interview erklärt. Sie hat Sondheims Karriere über Jahrzehnte als Theater-Kritikerin für den Aufbau begleitet.
Vielfach geehrt, hat Sondheim seine Texte um persönliche Erinnerungen und Anmerkungen erweitert in den lesenswerten Bänden «Finishing the Hat» und «Look, I made a Hat» publiziert.
Foto:
Stephen Sondheim bei der Arbeit am Broadway-Musical «Into The Woods» 1987 in New York
©tachles
©tachles