1 Orska 10 1Serie: MARIA ORSKA  ... WIEDERENTDECKT ...Die Verfolgung einer kulturhistorischen Spur..., Teil 1/15

WM.Wolfgang.Mielke

Hamburg (Weltexpresso) -  Ein auffälliger Name. Geheimnisvoll auch. Im Henschel-Verlag ist, von Ursula Overhage (*1951), ein Buch über diese Schauspielerin, die sonst nur am Rande durch die Theaterliteratur geistert, erschienen: 2021. - Das ist gut. - Sie wird herausgegriffen aus dem Meer der damaligen Namen, uns nahegerückt. Und doch, um das gleich vorweg zu nehmen: Man sieht den Bogen ihres Lebens am inneren Auge vorbeiziehen, sieht sie steigen, sinken. Das ist ein Verdienst. Aber die Orska selbst bleibt in diesem Buch stumm.

So viel auch über sie geschrieben wird, - sie selbst hat keine Sprache; keine Briefe, keine Notizen; #sprechen# kann und tut sie nur durch die beigegebenen Fotos. Man muss sie sich vorstellen – und bildet sich ein, dass man es kann. Ja, auf mehreren Fotos meint man, sie zu kennen und zu wissen, 'wie sie ist'. Als Typ, als Marke, als Erscheinung. Weiteres muss man erahnen. Man meint es zu können. Manches bleibt dennoch undeutlich. Vielleicht aber ist gerade #das# ihr eigenstes und wesentliches Merkmal.

Kennengelernt habe ich Maria Orska (1893 – 1930) zuerst durch die Memoiren von Fritz Kortner (1892 – 1970); er schreibt in "Aller Tage Abend" (1959) über sie: #"Nur wer ihrer großen Anziehung erlag, konnte sie für eine große Schauspielerin halten."# - Einen solchen Satz vergisst man nicht wieder. Und damit ist eigentlich alles gesagt. Die Orska als flirrendes, verführerisches Geschöpf, ein Wirbelwind, der einen andauernd beschäftigt, Interesse erregt, vielleicht erzwingt - aber wenn die Bewegung nachlässt, fällt man zurück in ein Gefühl der Leere? So mag es gewesen sein ... -----

Auf dem Titelfoto des Buches erinnert diese Schauspielerin mit ihrem riesigen Hut an Franz Kafkas (1883 – 1942) zweimalige Verlobte Felice Bauer (1887 – 1960), - deren Foto 1912 datiert ist-, während das Foto der Orska sicherlich einige Jahre später aufgenommen wurde. Gleichwohl gibt es der Frau auf dem Titel eine Zeitbezogenheit, auch Fernheit, Veraltetheit, - die ich für den Titel nicht gewählt hätte. Ich hätte die früheste von ihr bekannte Künstler-Aufnahme verwendet, ein Halbprofil von 1910, auf dem sie für mich wie eine junge Frau von heute aussieht, das all ihre Kessheit, aber auch Unsicherheit zeigt. - Vermutlich aber ist vom Verlag genau das Gegenteil bezweckt worden: Die weit und lange vergangene Zeit uns heute - etwa 100 Jahre später - vor die Nase gesetzt! Journalistisch gesagt: 'Die Vergangenheit soll uns anspringen'! - Dazu passt auch die sonstige graphische Gestaltung des Buches: Buchdeckel, Vorsatz und jede Kapitel-Anfangsseite sind mit einem eckigen Jugendstil-Muster verziert. Ebenso wirkt auch das Papier, als stamme es noch vom Anfang des letzten Jahrhunderts; - oder sind es noch Restbestände aus der ehemaligen DDR? Von der Haptik her wäre das durchaus möglich. Eine gewisse Schäbigkeit haftet dem Buch so durchaus an. Auch von der Qualität der abgedruckten Fotos, jeweils links zu Beginn eines neuen Kapitels. Das Buch also eine Art versuchter Mimikry ...? ---- Die Autorin aber jedenfalls ist darum bemüht, diese als Buchform 'gegenständliche Vergangenheit' lebendig zu machen ... -----

Wenn man (wie ich) gerade von den Briefen Theodor Fontanes (1819 – 1898) – also aus der #echten# Zeit noch drei Generationen zuvor - mit hoher Informationsdichte und hohem sprachlichen Niveau - übergeht zu diesem Buch über Maria Orska, ist der Absturz gewaltig! (Notiz: #"(...) zu diesem ganz gegenteiligen Buch (...) wo das Gewicht jeder Seite auf wenige Worte zusammenschrumpft."# - Und weiter: #"Hier banalstes Deutsch mit abgegriffensten Formulierungen und Vergleichen. - Sollte gerade DAS der Orska angemessen sein?"#) --- Fontane selbst äußert sich gegenüber Ludwig Pietsch (1824 – 1911), - dem Maler, Kunstkritiker und Feuilletonisten -, im Zusammenhang von gutem und deutlich weniger gutem Schreiben: #"Die Natur adelt; alles andre ist Unsinn, und eine der mir degoutantesten Erscheinungen ist es immer gewesen, gerade in den Romanen liberaler und aller-liberalster Schriftsteller, den Hauslehrer oder die Gouvernante, wenn sie heldisch-siegreich auftreten, sich schließlich immer als Graf oder Gräfin entpuppen zu sehn. Wenn auch nur von der Bank gefallen. -"# ---- Von solcher, etwas klischeehaften Darstellung ist das Buch der Ursula Overhage "Die Schauspielerin Maria Orska" leider nicht frei. ------ Ergänzung: 'Von der Bank gefallen' waren uneheliche Nachkommen. ----

Nun muss man aber, ebenso deutlich, zugunsten der Autorin und des Buches sagen: Das Buch ist grammatikalisch gut geschrieben; sogar mit einem Komma vor einem 'und' im Satz wird nicht gespart, mit dem – im Gegensatz ja zu einer Aufzählung - ein neuer Hauptsatz angeschlossen wird: Das erleichtert die Lesbarkeit. - Ein Positivum, das ebenfalls genannt werden muss, sind die von Beginn an durchgezählten Anmerkungen. Denn lästig sind diejenigen Bücher, bei denen die Zählung in jedem Kapitel neu beginnt, wo man also immer wieder vor- oder zurückblättern muss, um im Anmerkungsteil überhaupt das richtige Kapitel zu finden! -----

Das Buch erinnert streckenweise an ein, die Schauspielerei, das Theater und die titelgebende Schauspielerin verherrlichendes, fast schon in Backfisch-Schwärmerei geschriebenes Buch. Ein paar Beispiele: #"'Erzählen Sie mir von sich und Ihrer Kunst.' Die Orska lacht. 'Sie Schmeichler', entgegnet sie burschikos und spürt ein leichtes Herzklopfen. (...) Trotz der denkbar knappen Probenzeit laufen Verständigung und Zusammenspiel der beiden Bühnenpartner mit traumwandlerischer Sicherheit. Am Ende der Vorstellung brandet stürmischer Beifall auf. Dankbar und gerührt hält Wedekind die Hand seiner Lulu. (...) Der Gedanke, was daraus noch werden könnte, bewegt Maria Orska immer stärker und lässt sie träumen. (...) Maria Orska kann die Nachricht kaum fassen und ist einfach nur noch glücklich. Ihre alte Spielstätte ruft, und sie wird kommen. (...) Sie will Theater spielen, und sobald sie wieder auf der Bühne steht, muss sie die trüben Gedanken verdrängen."# --- Stellen dieser Art könnte man noch etliche aneinander reihen. Das Klischee-Bild, das durch sie entsteht, indem nicht das Echte und Vorgefallene mitgeteilt wird, sondern, immer etwas sentimental, die Phantasie, wie es wohl hätte sein können, ordnet die Maria Orska aber immer auf einem Nebengleis an, entrückt sie jeweils halb. - Auch wenn diese Stellen auf verschiedenen Seiten verteilt sind, - hier nur der Anschaulichkeit zusammengezogen -, nämlich auf den Seiten 121, 129, 171, 208 und 218. --------

Das ist es eben: Die Autorin füllt schreibend die weiten Lücken zwischen den wenigen greifbaren Tatsachen durch Gefühls-Vermutungen oder erfundene kleine Gesten und Handlungen aus. Das ist gewöhnungsbedürftig. ----------

Manche Erfindungen von ihr sind dagegen intelligent, auch witzig, zum Beispiel, wenn sie die Prinzessin Turandot, die schließlich dem Bewerber Kalaf ihr Ja-Wort geben muss, weil er das von ihr gestellte Rätsel lösen konnte, als #"Turandotation"# bezeichnet (S. 83). - Oder wenn sie über ein Theaterstück schreibt: #"Nicht nur das oft und schon etwas müde gedrehte# Karussell #(...)"# (S. 200). ----

Andererseits vermisst man auch (naheliegende) weiterführende kurze Hinweise, zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Film "Die Bestie im Menschen", Originaltitel "La bête humaine", nach dem gleichnamigen Roman von Émile Zola (1840 – 1902, möglicherweise ermordet) von 1890. Die Kritik meinte damals, 1921, übereinstimmend, dass der Stoff sich für die Verfilmung nicht eigne. Hier wäre der Hinweis auf Jean Renoir (1894 - 1979) sinnvoll gewesen, der mit seiner berühmten Verfilmung von 1938 das Gegenteil bewies, (S. 177). ------- In einem anderen Fall wundert mich der Mangel an Recherche: 1923 verlässt Maria Orska Hals über Kopf Berlin, um in Paris ihr Glück zu versuchen. Ursula Overhage schreibt hier ganz treffend: #"Was (...) Maria Orska dazu gebracht hat (...) bleibt ein Rätsel unter vielen Rätseln in ihrer Geschichte"# (S. 195). - Fortan wird Maly Delschaft (1898 – 1995) die 'Lulu' im Theater in der Königgrätzer Straße spielen, und so gut, dass der spätere und einzige durchgängig erfolgreiche Intendant der Berliner Staatsbühnen Boleslaw Barlog (1906 – 1999), der sie darin sieht, sie ein Leben lang mit #"Liebe Lulu"# anschreiben wird. ------ Zwei Jahre später, im Frühjahr 1925, erhält sie ein Angebot von eben jenem. von ihr so unvermittelt verlassenen Theater, wie schon zitiert (S. 208). Sie fährt mit dem Zug von Wien nach Berlin zurück. Ursula Overhage schreibt nun: #"Ihre Ankunft mit dem Fernzug am Anhalter Bahnhof wird für Maria zu einem Déjà-vu-Erlebnis. Vom Askanischen Platz ist es nur ein kurzer Weg zum Potsdamer Platz. Dort biegt sie in die Königgrätzer Straße ein und steht gleich darauf vor dem Portal ihres ehemaligen Theaters."# -- Das ist ja hübsch beschrieben, aber es verwundert, weshalb sich die Autorin nicht einmal die Mühe gemacht hat, einen Blick auf den Stadtplan zu werfen: Wer am Anhalter Bahnhof ankommt, steigt bereits direkt an der damaligen Königgrätzer Straße aus. Man hatte gar nicht nötig, zum Potsdamer Platz zu laufen, wo sich parallel, aber weiter nördlich, der kleinere Potsdamer Bahnhof befand, um von dort aus in die Königgrätzer Straße einbiegen zu können, in man er ja längst war! Man ging gleich rechts hinunter, nach Süden, und konnte vom Anhalter Bahnhof aus das Theater in weniger Minuten erreichen als den Potsdamer Platz. Sonderbar ... --------

Abschließend noch ein letzter Blick auf den Stil der Autorin: So heißt es auf Seite 217 ergänzend: #"Maria fühlt sich einsam. Voller Trauer und Wehmut denkt sie an die Menschen zurück, die ihr nahestanden und sie auf ihrem Weg begleitet haben, die sie geliebt und durch den Tod verloren hat."# ---- Es ist ja nicht verboten, immer wieder Vermutungen statt Tatsachen zu liefern; aber sinnvoll wäre es dann, die Vermutungen als solche zu deklarieren. -

Was nun aber die für Maria Orska durch Tod Verlorenen angeht, ergibt sich folgende Liste: - Ihr Vater stirbt 1918; - ebenso ihr wesentlicher Autor: Frank Wedekind (geb. 24.7.1864), nämlich am 9.3.1918 (genau ein Jahr zuvor hatte sie mit ihm noch gemeinsam erfolgreich auf der Bühne gestanden); - ihr Onkel Eugen Frankfurter, dem sie ihre künstlerische Karriere verdankt, stirbt im Dezember 1922 mit nur 61 Jahren; - 1925 erfolgt Maria Orskas Scheidung von Hans v. Bleichröder (1886 - 1938), einem Enkel des berühmten Bankiers Gerson v. Bleichröder (1822 - 1893), der für Bismarck (1815 – 1898) die Geldgeschäfte erledigte, den sie, nach fünfjährigem Zusammenleben heiratete (am 12.11.1920); - ihre wenige Jahre jüngere Schwester nimmt sich in der Nacht vom 10. auf den 11.2.1926 in ihrer gemeinsamen Wohnung in Wien das Leben. ---- Einerseits Leben in Glanz, Frische, Verzauberung, Ruhm, Luxus – auf der anderen Seite ein nicht geringer zu zahlender Preis ... -----

Foto:
Cover

Info:
Ursula Overhage, "Sie spielte wie im Rausch" / Die Schauspielerin Maria Orska, Henschel-Verlag, 2021