Laudatio auf den Dichter und Liedermacher Wolf Biermann von Yves Kugelmann anlässlich der Verleihung des Preises für sein Lebenswerk beim Ari Brauer Publizistikpreis in Wien
Yves Kugelmann
Wien (Weltexpresso) - Krieg in Europa. Wieder Krieg in Europa!
Geboren wird Karl-Wolf Biermann 1936 in Zeiten der finstersten Diktatur. Er wächst auf mitten im Krieg, der in ganz Europa brennt.
1943 das Schicksalsjahr: am 22. Februar wird sein Vater Dagobert Biermann im Vernichtungslager Auschwitz ermordet. Nur drei Monate später überlebt sein Sohn das britische Bombardement auf Hamburg; die Operation «Gomorrah»– ein Fegefeuer, das in zwei Nächten zehntausende Tote hinterlässt. Der kleine Wolf überlebt dank seiner Mutter Emma.
Sie erklärt dem Sechsjährigen, dass diese mörderischen Bomben, denen sie grade knapp entkommen sind, jene der englischen Verbündeten sind, die sie befreien werden von ihren Todfeinden – den Nazideutschen.
1953 «flieht», wie er schreibt, Wolf Biermann in die DDR, in die ostdeutsche Diktatur, die er als sechszehnjähriger Kommunist als das bessere Deutschland begreift. Zu seiner Mutter sagt er: «Emma, hier in Westdeutschland kann ich nicht leben, hier laufen ja die Mörder meines Vaters frei herum.»
In Freiheit wird der junge Wolf Biermann bis zu seiner Ausbürgerung 1976 nie leben – doch frei ist er immer. „Nehmt Euch die Freiheit, sonst kommt sie nie!“ fordert er seine verzagten, angepassten Schriftstellerkollegen auf. Unverbiegbar, aber nicht stur, mutig, aber nie naiv, kompromisslos, doch stets offen, ganz nach Schriftsteller Erich Mühsam: «Sich fügen heisst lügen.» Wolf Biermann bleibt aufrecht und gradlinig gegen ein totalitäres Regime, das ihn mit perfiden Mitteln mundtot zu machen versucht. Doch Biermanns Humanismus ist nicht korrumpierbar. Der Sohn von kommunistischen Widerstandskämpfern spricht mit der ganzen Anmassung des rechtmässigen und nicht Schuld beladenen Erben.
Biermanns literarische und philosophische Leitsterne im „Freiheitskampf der Menschheit“ sind Heinrich Heine, Berthold Brecht, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Hölderlin und Georg Büchner. Deutschlands Texte des Aufbruchs sind Ausgangspunkte, Vorbilder für Wolf Biermanns Dichtung, die ohne Deutschland nicht denkbar wäre – und doch so wenig deutsch ist: voller Humor, voll Leichtigkeit und melancholischer Tiefe. Mit der spitzen Feder der Ironie und Selbstironie, mit Reimen, die treffender sind als jede wortreiche Analyse, mit eindringlichen, meisterhaften Melodien verschafft Wolf Biermann seinen Wahrheiten Gehör.
Darin liegt die fundamentale Kraft im Werk von Wolf Biermann: das existentielle Moment gepaart mit unbändigem Urvertrauen. In dieser Kombination entsteht die zeitlose, oft visionäre Gültigkeit über den zeitgebundenen Anlass hinaus, wenn der «Drachentöter» etwa der DDR-Elite und allen folgenden in die Fratzen singt:
Im „Neuen Deutschland“ finde ich
Tagtäglich eure Fressen
Und trotzdem seid ihr morgen schon
Verdorben und vergessen
Heut sitzt ihr noch im fetten Speck
Als dicke deutsche Maden
Ich konservier euch als Insekt
Im Bernstein der Balladen
Und dann zum Schluss kommt:
Ihr löscht das Feuer mit Benzin
Ihr löscht den Brand nicht mehr,
Ihr macht, was ihr verhindern wollt,
Ihr macht mich populär!
Biermanns Werk ist zutiefst menschlich und damit hochpolitisch.
Egal zwischen welchen Kulturen, Jahrhunderten und Philosophien Biermann sich bewegt; der Dichter navigiert immer auf den Menschen zu. Nicht auf dem abstrakten höheren Ziel für mehr Menschlichkeit, sondern auf dem lebendigen Einzelnen liegt Biermanns Aufmerksamkeit ganz gemäss seiner Oma Meume: «Mei Junge. Durch zuviel Klugheit wird man dumm.»
Nie kommt er seinen Lesern mit abgehobenen Theorien. Vielmehr stösst er sie auf das Unmittelbare, das Niedere, auf das Konkrete.
Das hochpolitische liegt für Biermann immer im privaten Leben des Einzelnen.
Biermanns Texte waren rasch kult, wurden im Ostdeutschland der Diktatur trotz des Banns rezitiert und verinnerlicht. Sein Lied die «Ermutigung» wurde die Widerstandshymne der politischen Gefangenen.
Biermanns Texte sind Anfang einer Bewegung, die schliesslich in Montagsdemonstrationen zur waffenlosen, friedlichen Revolution, dem Fall der Mauer und dem Ende der Sowjetunion führten. Sie sind Zeugnis dafür, dass Widerstand zuletzt obsiegt. – Nur (Zitat): «Alle Diktatoren der Weltgeschichte sind bisher gescheitert. Fragt sich nur wann! Und fragt sich, wie viele unschuldige Menschen solch eine Diktatur beim Sturz mit in den Abgrund, mit in das Verderben reisst.»
Klar. Biermanns Leben ist auch geprägt von der jüdischen Erfahrung – von Beginn an.
Hier verbinden sich die Biographien des Preisgebers und -trägers. Auch Arik Brauers Vater starb im Konzentrationslager, er selbst überlebte untergetaucht in einem Wiener Versteck. Nach dem Krieg schloss sich auch der junge Brauer zunächst der Kommunistischen Partei an, wandte sich aber bald enttäuscht ab. Diesen Bruch vollzog Biermann 1983.
Das Einzelkind Wolf Biermann verlor durch die Deutschen seine gesamte jüdische Familie; über zwanzig Menschen. Der Verlust zieht sich wandelnd und durch alle Jahrzehnte durch Biermanns Werk, wenn er in seiner Biographie schreibt: «Dieser eine Grundkummer ist mein Schreien, mein Quasseln, mein Stottern, all mein Singen, mein Mut, mein Übermut, mein Gelächter, mein Schweigen . Dieser polit-genetisch gezeugte Kummer wurde all mein vegetativer Hass, aber auch meine angelernte Lust am Leben. Der Kummer um meinen Vater blieb meine verwüstbare Hoffnung, meine bedrohte Liebe.»
In seinem «Gesang für meine Genossen» aus dem Jahre1966 heisst das dann so:
Und ich singe all meine Verwirrung
und alle Bitternis zwischen den Schlachten
und ich verschweige dir nicht mein Schweigen
- ach, in wortreichen Nächten, wie oft verschwieg ich meine jüdische Angst, von der ich behaupte
dass ich sie habe - und von der ich fürchte
dass einst sie mich haben wird, diese Angst
Die Frage nach «Frieden schaffen mit oder ohne Waffen?», beantwortete Biermann nie mit falsch verstandenem Pazifismus. Als 1991 der irakische Diktator Saddam Hussein die Völker des Nahen Ostens und besonders die Existenz Israels bedroht, schreibt Biermann gegen die deutsche Friedensbewegung: «Damit wir uns richtig missverstehen, meine lieben linken Freunde: ich bin für diesen Krieg am Golf.»
Und wie so oft in seiner Dichtung gelingt ihm im dialektischen Paradox die tiefere Erkenntnis. Das deutsch-jüdische Paradox seines Lebens wiederum formuliert er 1987 so:
Und weil ich unter dem Gelben Stern
In Deutschland geboren bin
Drum nahmen wir die englischen Bomben
Wie Himmelsgeschenke hin ...
Biermann weiss, wovon er spricht (Zitat): «Wir Deutschen leben nur in einer Demokratie, weil die Armeen der Anti-Hitler-Koalition den Krieg geführt haben und unter grossen Opfern gewannen. Diese alliierten Soldaten kämpften und starben auch für mich. Deshalb kann ich leider kein Pazifist sein.»
Und vor wenigen Tagen sagt er im Interview: «Für mich gilt: Gebranntes Kind sucht das Feuer. Ich hatte nie lähmende Angst vor dem Streit der Welt. Ich war immer dafür, dass man sich wehren muss, mit Worten, mit Wahrheiten, mit Geld, aber auch mit Waffen.»
Eine Haltung, die nun über Nacht nach dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zur West-Doktrin wurde.
Der Augenöffner mit Gitarre und Bleistift als einzige Waffe, der noch nie ein Gewehr in Händen trug, er spürt das potentielle Inferno. Wenn in diesen Tagen Mütter wieder ihre Kinder vor den Bomben retten, dann ist es wieder da: das Trauma des kleinen Karl -Wolf.
Heute heissen die Städte Charkiw, Mariupol, Cherson, bald Odessa, Kiew, Leviv. Der Bombenteppich, das Fegefeuer, die Bodenoffensive liegen wieder in der Luft. Der grösste Flüchtlingsstrom Europas seit 1945 straft Horden von naiven Schönrednern, Diktatoren- statt Demorkatieverstehern ab.
Anfang Januar 2022 schreibt Wolf Biermann in der Elegie im 86. Jahr:
Nun schliesst mein Lebenskreis, wer weiss
Sich höllenwärts. Noch lach ich, mach
Mein Ding. Und schweige dir. Ich sing
Trotz alledem mein Lied. Es flieht
Mein guter Stern in fern´re Ferne
Verkroch sich, in ein schwarzes Loch
Hab mehr als nur genug gesehn
Dein Lächeln sah ich leuchten. Doch
Die Elbe fliesst bei Övelgönne
Als könne sie ewig stille stehn.
Sah Sonnen aufgehn, falsche Sterne
Sah Scardanelli überm Neckarfluss
Schenk mir, mein Weib, ein' Seelenkuss
Ich, der Lebendigste, leb nicht mehr gerne
«Ich, der Lebendigste, leb nicht mehr gerne.» Ist der Dichter, Kämpfer, Menschenfresser müde geworden – nach Vietnam, Afghanistan, Balkan, Syrien, nach allen Kriegen der letzten 75 Jahre? Keinesfalls.
Doch erstmals in seinem Leben holt ihn dieses Weltenende ein (Zitat): «Jetzt aber erlebe ich zum ersten Mal in meinem Leben eine tiefe Angst vor dem Krieg. Treffender gesagt: Ich habe nicht die Ängste, sondern die Angst hat nun leider mich.»
Mit diesem neuen Krieg in Europa ändert sich auch der Fokus dieser Laudatio. Nicht die «Ballade vom Preussischen Ikarus», nicht «Der Hugenottenfriedhof», nicht die «Ballade zum 35. Jahr», nicht die «die Stasi-Ballade», «Melancholie», «Bin mager und fühle mich», keine Sonette oder Nachdichtungen oder Essays – nein: die Antikriegslieder drängen sich vor, wie dieses aus dem Jahre 1963:
Soldat Soldat in grauer Norm
Soldat Soldat in Uniform
Soldat Soldat, ihr seid so viel
Soldat Soldat, das ist kein Spiel
Soldat Soldat, ich finde nicht
Soldat Soldat, dein Angesicht
Soldaten sehn sich alle gleich
Lebendig und als Leich
Nicht alle Soldaten sind, sondern alle Soldaten sehn sich gleich. Dichtung als tiefere, duale Erkenntnis über Generationen hinweg und in diesen Tagen keine Worte sondern Realität.
Wolf Biermann hat Geschichte geschrieben, anders als er sich das als junger Kommunist vorstellte. Er hat Antikriegslieder geschrieben, die Generationen prägte. Doch Biermann hat auch die schönsten Liebesgedichte und die schönsten Melodien geschrieben – die er schreiben wollte und es eben auch konnte.
Wolf Biermanns veröffentlichtes Lebenswerk umfasst bisher 24 Alben und über 40 Publikationen von Gedichten, Übersetzungen, Nachdichtungen, Essays, Noten und Hörbüchern. Seit 1954 führt der Aussenseiter Tagebuch, und schuf so eine aussergewöhnliche Chronik seiner Zeit über sechs Jahrzehnte. All dies kulminiert zu einem europäischen Jahrhundert-Werk.
In der nationalsozialistischen Diktatur geboren, in die kommunistische Diktatur ausgewandert – in die Freiheit und Demokratie verdonnert. Der dichtende Einsiedler, der singende Troubadour, der mutige Widerstandskämpfer. Flucht, Migration, Exil, Hoffnung, Emanzipation und Widerstand sind Themen seiner Dichtung, aber eben auch zärtlich-innige Lieder nicht über die Liebe zur Menschheit, sondern zu der der unverwechselbaren Geliebten.
Leben und Werk sind bei Wolf Biermann nicht voneinander zu trennen.
So heisst es im Gedicht «Heimat»:
Ich suche Ruhe und finde Streit,
Wie süchtig nach lebendig Leben.
Zu kurz ist meine lange Zeit
Will alles haben alles geben
Weil ich ein Freundefresser bin
Hab ich nach Heimat Hunger immer!
Das ist der Tod, da will ich hin
Ankommen aber nie und nimmer.
Wenn die Jury von Mena Watch vorgestern Wolf Biermann für sein Lebenswerk mit dem Arik Brauer Preis auszeichnete, dann als Gesamterscheinung: Den Dichter und Musiker für sein vielseitiges Werk, den Rebell für den kritischen Widerstand und seine unbeirrbare, humanistische Haltung.
Ja, es ist wieder Krieg in Europa. Biermanns Freiheitslieder bleiben und sind aktueller als es uns allen lieb sein kann.
Der lebendigste unter Deutschlands Dichtern hat sein Lebenswerk noch lange nicht vollendet. Der Kampf geht wieder von vorne los. Zum Guten der Menschen, der Kunst und im Gedenken an all die Seinen – oder mit den viel treffenderen Worten von Wolf Biermann:
Mag sein, dass ich einmal
Wenn alles erreicht ist,
erreicht habe nichts,
als ein Anfang von vorn.
Foto:
Erwin Javor und Wolf Biermann (rechts).
©tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 31. März 2022