Yves Kugelmann
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - tachles: Künstlerinnen und Künstler sollten bekanntlich ihre Kunst nicht erklären, trotzdem interessiert es den Betrachter, was hinter dem und im Bild ist. Können Sie das nachvollziehen?
Miriam Cahn: Das hat viel mit der Vermittlung zu tun, als was Kunst allgemein gilt. Die oft gemachte Unterscheidung zwischen Ästhetik und Inhalt gibt es nicht, für mich ist das das Gleiche. Klar habe ich meine Inhalte, aber alles andere ist, wie bei jedem Künstler, offen, und Inhalt ist gleich Ästhetik.
Gibt es für Sie aber eine Unterscheidung zwischen engagierter und anderer Kunst?
Ich finde Kunst nur dann interessant, wenn sie auch engagiert ist. Aber das heisst nicht Politkunst, die zweckgebunden ist und mit der man ein politisches Ereignis illustrativ zum Inhalt macht. Das ist für mich in bestimmten Momenten in Ordnung. Aber in anderen Situationen wie heute wird das peinlich. Engagierte Kunst widmet sich dagegen all den Themen, die gerade vorhanden sind. Sie ist für mich das Bewusstsein von Zeitgenossenschaft.
Sie schreiben ja auch Texte. Sollen diese in Verbindung mit dem Werk gesehen werden?
Texte sind wie Bildmaterial, und Bildmaterial wiederum ist wie Wort. Aber es kommt immer auf den Zusammenhang an, wie es zeitgenössisch eingeordnet werden kann. Und in meinen Augen ist ein einzelnes Bild wie ein einzelnes Wort – es nützt niemandem etwas. Sammlerinnen und Sammler und auch Museen sehen zwar eher das Einzelbild. Persönlich finde ich es aber viel besser, wenn in Sammlungen der Zusammenhang vorhanden ist, etwa eine Serie, oder auch ein Raum.
Also etwa bei Ausstellungen?
Ja, wenn ich eine Ausstellung selber gestalte, dann mache ich genau das, und die Leute merken, dass die Zusammenhänge vorhanden sind und die Räume etwas anderes sind als ein Einzelbild. Museumsleute und Sammlerinnen und Sammler sind indessen natürlich frei, ihre eigenen Interpretationen zu machen, und dies kann auch gut sein.
In Ihren Werken taucht ab einem gewissen Zeitpunkt auch die Darstellung des Menschen auf. Wie gehen Sie an diese heran?
Als Feministin von früher Jugend an frage ich mich beispielsweise, was für eine Definition der Begriff «Frau» gesellschaftlich überhaupt ist. In jedem Fall ist es die Hälfte der Menschheit, die auch in Demokratien in irgendeiner Form unterdrückt wird. Dazu kommt dann die Kunstgeschichte, in der Frauen fast immer passiv dargestellt wurden – in der Kunst waren im Grossen und Ganzen ja immer Männer tätig. Deshalb wurden Männer in viel mehr Funktionen dargestellt, so, wie es in der Gesellschaft eben war, und Frauen sind einfach «dabei». Heute haben Künstlerinnen wie ich ein riesiges Feld, das wir neu beackern können, es gibt neue Inhalte. So etwa der Vorgang der Geburt, mit dem ich mich derzeit stark auseinandersetze und der in der Kunstgeschichte ja nie dargestellt wurde. Aber es gibt auch sonst unendlich vieles, bei dem ich eine Verpflichtung empfinde, es als Frau und Künstlerin darzustellen.
Ihre Darstellungen auch von nackten Frauen könnte man aber nicht als «Akt» bezeichnen, oder?
Nein, niemals, denn schon diese Bezeichnung ist vordefiniert als Oberflächen-Objekt für die damaligen Künstler. Das geht heute nicht mehr, es ist der Körper, die Nacktheit. Da hat mit der Fotografie zwar eine Öffnung stattgefunden, aber nur zum Teil. Denn es gab zu jener Zeit noch immer wenige Künstlerinnen, und die Künstler erfanden es nicht neu, sondern nur detaillierter wie etwa Klimt oder Schiele.
Und wie wird die Frau vom Objekt zum Subjekt?
Wenn sie in Tätigkeit gezeigt wird. Beispielsweise beim Gebären, das sehr spezifisch weiblich und körperlich bedingt ist, was – jedenfalls derzeit – nur Frauen machen können. Mir ist die Tätigkeit sehr wichtig, und ich finde, dass Frauen alles sein und tun können sollten, was Männer sind und tun: Generalinnen, Soldatinnen, einfach alles. Das ist wirkliche Gleichberechtigung, und erst ab diesem Punkt kann man darüber reden, ob Frauen als Menschen anders sind.
Also erst wenn Frauen nicht mehr Frauen und Männer nicht mehr Männer, sondern alle Menschen sind ...
... dann klappt es. Das behaupte ich jetzt jedenfalls einmal, auch wenn ich dann wahrscheinlich nicht mehr dabei sein werde.
Was bedeutet das aber für Ihre Kunst: Bei Ihnen gibt es ja oft weiblich konnotierte Menschen.
Es gibt aber die Unterscheidung schon auch, ich stelle ja auch Männer dar. Und viele meiner Figuren sind irgendwo dazwischen, nicht genau zu definieren. Das finde ich interessant, also etwa einen typischen Männerkörper in ein blaues Gewand zu hüllen und damit einen Zwiespalt entstehen zu lassen. Dieser ist ja aktuell sowieso ständig in Diskussion. Für mich sind das interessante Momente, ist das Material, das zeigt, wo wir jetzt stehen.
Arbeiten Sie auch mit Modellen?
Nein, das kommt alles aus dem Kopf, ich kann das ohne Modelle.
Also Fantasie?
Nein, Vorstellungskraft. Das finde ich sehr wichtig, weil wir uns derzeit so individuell geben, nach dem Muster: Du kannst dir das doch gar nicht vorstellen, du hast ja nie geboren, oder du hast ja keine schwarze Haut. Es wird doch alles auf dieser schrecklich falschen Ebene diskutiert. Man kann sich doch durchaus vorstellen, wie schmerzhaft es ist, ein Kind zu gebären oder dunkelhäutig und diskriminiert zu sein – deshalb ist der Begriff «Vorstellungskraft» so viel besser als «Fantasie». Vorstellungskraft ist für mich das Zentrum, und damit kann ich sehr gut arbeiten.
Und wie steht es um die Gesichtsausdrücke, die Sie abbilden?
Beispielsweise das Lachen oder Lächeln? Als Frau kennt man es gut, dass man eine ungute Situation einfach weglächelt. In meinen Augen etwas Urtümliches, Säugetierhaftes. Hunde und Wölfe machen das auch, sie ziehen die Lefzen hoch und «lachen», wenn sie sich unterwerfen. Ich finde die Sache mit dem Lachen zwiespältig. Aber klar, ich stelle es als Lachen dar, und unter Umständen sieht man die Zähne. Dann ist es unklar, ob es Lachen oder Zähnefletschen ist. Heisst, die anatomischen Sachen sind mir schon wichtig, um Ausdruck herzustellen.
Ein Unterschied zwischen dem Mund, der lacht, und dem Ausdruck der Augen soll also durchaus den Betrachter herausfordern?
Ja, und wenn ich eine Ausstellung selbst gestalte, ist es mir immer wichtig, dass die Figuren auf durchschnittlicher Augenhöhe der Betrachter hängen. Dabei kann es auch passieren, dass, wenn beispielsweise auf einem Bild ganz unten ein Kopf ist, dieses sehr hoch hängt. Diese Hängemethode hat damit zu tun, dass die Bilder Auge in Auge mit den Betrachterinnen und Betrachtern sind, und das macht eben einen Unterschied, und es funktioniert.
Zentral sind sicher auch die Farben, und die haben sich in den letzten Jahren bei Ihnen verändert. Wie kam das?
Ich hatte 1995 einen Rückenschaden und konnte nicht mehr mit schwarzer Kreide auf dem Boden arbeiten. Also stellte ich auf Ölmalerei um. Die Farbigkeit hat damit zu tun, und ich habe Ölmalerei gewählt, weil ich damit genau so gut wie mit anderem umgehen kann. Ich weiss genau, welche Farbe auf was reagiert – das war also kein Versuch mit Farben, sondern eine Wahl. Vorher schwarz-weiss, auch eine Wahl, jetzt farbig.
Weshalb zu Beginn schwarz-weiß?
Weil ich nach meiner Ausbildung das Gefühl hatte, dass ich, wenn ich auf dem Boden schwarz-weiß arbeite und die Übersicht verliere, nicht auch noch Farben auswählen kann. Zeichnen und schwarz-weiß in dem großen Mass, wie ich es machte, war damals richtig, und ich ließ mir extra schwarze Kreide in großen Klötzen herstellen. Wobei ich als Gegensatz dazu ja auch farbig arbeitete, etwa bei den Atombomben-Bildern, die Aquarelle sind. Es hatte zu Beginn viel mit dem Material und mit der Verabschiedung vom Auswählen von Farben zu tun. Ich wollte das damals nicht. Thematisch ist heute noch immer alles gleich, aber vom Material her völlig verschieden.
Spielt schwarz-weiß oder farbig für die Aussagekraft der Bilder eine Rolle?
Nein, es ist ein Mythos, dass farbig so und so und schwarz-weiß so und so sei. Es geht da eher darum, dass Schwarz bei uns mit Trauer konnotiert ist. Aber anderswo ist dafür die Farbe Weiß bestimmt. Das ist gesellschaftlich bedingt.
Und wie stark sind Ihre eigenen jüdischen Wurzeln in Ihrer Kunst zum Tragen gekommen?
Schwer zu sagen. Aber sicher spielt es zwischendurch immer mal wieder eine Rolle. In meiner Schwarz-Weiß-Zeit sagte mir einmal ein Kurator, ich sei jüdischer, als ich selbst meine. Ich frage mich noch heute, was er damit meinte. Aber es kann natürlich so sein, und für mich ist das sehr interessant. Denn natürlich komme ich aus einem jüdischen Hintergrund, aber aus dem assimilierten deutschen Judentum. Ich merkte erst in meiner späteren Kindheit und schrittweise, dass ich mich in gewissen Dingen von anderen Kindern unterschied. Wobei man als Künstlerin Unterschiedlichkeit ja gerne hat und ich durchaus eine kämpferische jüdische Seite habe.
Sie leben im Bergell-Dorf Stampa und blicken auf Alberto Giacomettis Geburtshaus. Er verarbeitete seine Kriegserfahrung in seinen berühmten, ausgemergelten Menschenfiguren mit Gesichtern ohne Angesicht. Irgendwie etwas, das gerade bei Ihren Fluchtbildern auffällt. Wie stark prägt diese künstlerische Nachbarschaft Ihr Werk?
Ich bin eh von unzähligen Künstlern geprägt. In meinem Elternhaus gab es unzählige Kunstbücher und Kataloge; ich habe schon als Kleinkind unendlich viele Bilder in mir aufgenommen. Giacometti und Picasso waren meine Helden, und ich wollte als Künstlerin so werden wie sie. Picasso mag mir näher stehen, aber an Giacometti fand ich seine komplette Reduzierung immer so toll. Diese beruht, wie er selbst es schilderte, darauf, dass er verzweifelt versuchte, das Bild, das er im Kopf hatte, wiederzugeben. Aber das schaffte er nicht – was in der Kunst das Grundwesen ist, wenn man so arbeitet wie er und ich. Er litt darunter, ich nicht.
Für ihn war das also ein konstantes Scheitern?
Ja, und er beschrieb es auch so. Er hat ja auch immer wieder Werke weggeworfen, die sein Bruder dann irgendwie rettete. Bei Giacometti waren das sehr echte Gefühle. Aber es ist ansonsten auch ein wenig ein Mythos und eine Mitleidstour: Als Künstler muss man leiden, erst in der Folge kann man gute Kunst machen. Aber das trifft nicht zu, und man sollte es nicht als einzige Möglichkeit für die Darstellung von Menschen propagieren. Bei Giacometti allerdings war es so.
Sie sagten, dass Ihnen Picasso näher steht. Warum?
Weil er rasend schnell arbeitete, so wie ich. Einfach drauflos, nichts von wegen leiden. Darum finde ich ihn noch immer so richtig toll. Er hat für mich gelebt wie er gearbeitet hat – ein ganz anderer Ansatz als jener von Giacometti.
Nun gibt es in Europa wieder Krieg. Was hat das auf Sie als Künstlerin für einen Einfluss?
Das kann ich noch nicht sagen. Aber ich musste sehr an die Neunzigerjahre denken, als der Krieg in Ex-Jugoslawien losging. Da verlor man die Illusion, dass der Mauerfall alles neu machen würde. Der Mauerfall war ein Einschnitt, man freute sich, dass nun eine gute Zeit kommen würde. Aber binnen zwei Jahren war das wieder dahin, wegen des Golfkriegs und des Balkankriegs. Letzterer hat mich wirklich beschäftigt, und ich behandelte ihn auch in meiner Kunst; ich kam zunächst weg von den großen Bildern und machte nur noch kleine Zeichnungen, die alle «Sarajewo» hießen. Aber auch der Ukraine-Krieg bestärkt mich darin, dass Europa nun hoffentlich endlich realisiert, dass es eine europäische Armee haben muss. Mit Despoten kann man ja nicht reden, die machen ihr Ding, und Putins Ding ist nun eben mal Krieg. Krieg ist Waffen, und man kann nur mit Waffen antworten.
Sie sind keine Pazifistin?
Nein, das war ich nie. Denn es funktioniert ja nicht. Nicht etwa, dass ich Krieg befürworte, darum geht es nicht. Aber wenn wir es wirklich ernst meinen mit unseren freiheitlichen Demokratien, dann müssen wir diese auch verteidigen. Und das geht – leider – in solchen Fällen wie jetzt nur militärisch. Auch wenn ich fassungslos darüber bin, dass es solch gräßliche Situationen wie jetzt in der Ukraine überhaupt gibt.
Foto:
Miriam Cahn in ihrem Atelier im Bergell mit Werken zur Flüchtlingsthematik
©tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 17. Juni 2022