DSC1658Zwei zeitgenössische Variationen von "Dornröschen"  

Hanswerner Kruse

Kassel (Weltexpresso) - Im Kasseler Staatstheater setzt die neu ausgerichtete Tanzsparte ihre Auseinandersetzung mit klassischen Balletten von Tschaikowsky fort. Nach „Schwanensee“ im letzten Jahr, entwickelten nun zwei Gastchoreografinnen zeitgenössische Variationen von „Dornröschen.“

 DSC3833Auf der schneeweißen Bühne schlängelt sich eine schwarzglänzende Gestalt aus einem silbrigen Behältnis. Sie windet, verschlängelt, verbiegt sich, stakst in bizarren Bewegungen zu Industrial-Klängen oder Neuer Musik umher und wird schließlich durch eine riesige, weiß gewandete Figur mit Baby, von der Rampe gezerrt. Mehr und mehr strahlendweiße Tänzer und Tänzerinnen erscheinen und vollführen irrsinnige akrobatische Bewegungen. Sie wirken wie Gummimenschen mit starren Puppenaugen, die nach einiger Zeit vergeblich versuchen, synchrone Bewegungen zu vollführen oder sich einander anzunähern.

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Eigenartige Traumbilder entstehen, Szenarien, die man so noch niemals im Tanztheater gesehen hat. Sie alleine sind den Besuch dieses Doppeltanzabends wert. Mit weiteren verschiedenen Bildgruppen entführt uns die portugiesische Choreografin Liliane Barros in „100 years 100 hearts“ durch fremde unwirkliche Welten. Die sieben Szenen beziehen sich auf Symbole des einst wilden Märchens, das im Laufe seiner Verbreitung stark gezähmt wurde. Ungezügelte, ja böse Unterströmungen der Erzählung werden durch die Compagnie wieder freigelegt.

Aber es gibt auch sanfte Bilder, die Zwillinge die sich aneinander in Schnüren gebunden hin- und herwiegen, Menschenskulpturen in verhüllenden Tüchern. Die Tanzenden paraphrasieren unsagbare Ereignisse mit ihren Körpern: „Dennoch bleibe ich in meiner Kreation abstrakt, visuell, atmosphärisch, intuitiv, archaisch – um den Raum für Assoziationen zu öffnen“, meint die Choreografin.

 DSC6179Viel Raum für eigene Interpretationen enthält auch „Dawn and Day“, die zweite Dornröschen-Adaption des Abends der Choreografin Sita Ostheimer. Sie hat jahrzehntelang für die Compagnie des israelischen Choreografen Hofesh Shechter gearbeitet, was man ihrem Stück überdeutlich anmerkt. Im Halbdunkeln, manchmal bei grellem Licht wird unaufhörlich kraftvoll und dynamisch zu kräftiger rhythmischer Musik getanzt, wie man es von Shechter kennt. Immer und immer und immer wieder auf dem gleichen Level entstehen - mit gelegentlichen Tschaikowsky-Anklängen - Tanzbilder, Begegnungen, chorische Bewegungen.

Oft sind sie im Dämmerlicht nur schwer zu erkennen, sollen dadurch die verdrängten Hintergründe des Märchens deutlich werden? Es sei eine „Hardcore-Überlebensgeschichte“, sagt Ostheimer selbst dazu. Denn auch sie will die verschiedenen Schichten des Märchens, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden, gleichsam archäologisch wieder ausgraben.

Foto:
© Sylwester Pawliczek

Info:
Weitere Aufführungen am 19. November sowie am 16., 20. 23. und 26. Dezember

Der Kasseler "Schwanensee" im Weltexpresso