robert menasse Yves Kugelmann im Gespräch mit Robert Menasse 

Yves Kugelmann

Basel (Weltexpresso) - Der Schriftsteller Robert Menasse verbindet Fiktion mit Realität – und brennt für ein neues Europa. Mit «Die Hauptstadt» traf Robert Menasse den Kern der Zeit, gewann den deutschen Buchpreis und beschreibt in seinem neuen Roman die politischen Widersprüche Europas anhand eines Bruderzwists – ein Gespräch.


tachles: Ihr neuer Roman schildert die Probleme Europas analog zum biblischen Bruderzwist. Kann der teilweisen Absurdität der EU-Konstruktion nur noch mit biblischen Motiven beigekommen werden?

Rober Menasse: Wahrscheinlich kann man für alle grossen menschlichen und sozialen Konflikte eine paradigmatische Bibelstelle finden, überhaupt in allen alten mythischen Menschheitserzählungen. Deswegen leben sie ja weiter, solange wir nicht wieder den Eingang, zumindest den Hintereingang ins Paradies gefunden haben. Und der Bruderzwist ist eine klassische Möglichkeit, von einem grundsätzlichen Widerspruch zu erzählen, politisch, gesellschaftlich, menschlich. Mir ging es um den Widerspruch zwischen der nachnationalen Entwicklung Europas und dem Wiedererstarken des Nationalismus in den europäischen Staaten.


Sie erzählen von zwei polnischen Männern, die als junge gleichsam Blutsbrüder im Untergrund gegen den Kommunismus für ein freies, demokratisches Polen gekämpft haben. Danach machen beide politische Karriere, der eine national in der polnischen Innenpolitik, der andere europäisch in der Europäischen Kommission. Und sie werfen einander vor, ihre alten Ideale verraten zu haben.

Genau. Und dieser Konflikt der Blutsbrüder, als Rahmenhandlung meines neuen Romans, ist wirklich symptomatisch für die gegenwärtige Situation der EU. Das ist das Hauptproblem heute in der EU: der Nationalismus blockiert die Gemeinschaftspolitik, verhindert die Lösung der großen Herausforderungen, vor denen wir stehen und die keine Nation alleine bewältigen kann. Umgekehrt werfen die Nationalisten der EU vor, die Souveränität ihrer Nationen, ihre Selbstbestimmung auszuhöhlen. Die Polen haben für ein freies Polen gekämpft, und das sehen sie durch ein nachnationales Europa, in dem Entscheidungen in Brüssel fallen, bedroht. Verallgemeinert: Es ist ein Patt, das den Kontinent unbeweglich macht.


Aber ist ein nachnationales Europa nicht eine Utopie, die von den wenigsten verstanden und gewünscht wird?

Es ist keine Utopie. Es ist Realität, ein Prozess, der seit Jahrzehnten wirklich stattfindet. Von nationalen Märkten zu einem gemeinsamen Markt, von nationalen Grenzen zum Schengen-Raum, von nationalen Währungen zur Gemeinschaftswährung, von nationalen Rechtssystemen zum europäischen Recht, und so weiter. Dazu kommt die Globalisierung, die ja auch nichts anderes ist als die Zertrümmerung aller nationalen Grenzen und der Idee nationaler Souveränität. Gerade in den heutigen Krisen zeigt sich die wechselseitige Abhängigkeit und Verflechtung der Staaten, ihre Hilflosigkeit im Versuch souveräner Lösungen. Und das ist jetzt die reale, aktuelle, ganz konkrete Frage: Wollen wir diese Entwicklung erleiden oder gestalten? Ist die naheliegende Antwort wirklich eine verrückte, unrealistische Utopie?


Weshalb ein Roman und kein Sachbuch?

Ich habe zu oft erlebt, wie frustrierend es ist, zu versuchen, sachlich politisch zu diskutieren, Essays und Reden zu schreiben, auf Podien zu sitzen. Nationalisten sind Nationalisten sind Nationalisten. Das zieht sich bis in die großen Zeitungen, die ja alle auch nur nationale Medien sind. Wer in Frage stellt, dass die Nationen bis in alle Ewigkeit die Grundlage unserer politischen Organisation bilden, hat augenblicklich die brutalsten Gegner, die man in einer Diskussion haben kann: die Nationalisten. Die haben es in ihrer DNA, dass Gegner vernichtet werden müssen. Wenn jemand der Meinung ist, dass die Erde eine Scheibe ist, dann wird er auf einem Foto der Erde, die vom Weltraum aus aufgenommen wurde, auch nur eine blaue Scheibe erkennen. Jedenfalls: Ich bin kein Feind meines Wohlbefindens. Ich bin auch nicht mehr bereit, Meinungen, die ich aus historischer Erfahrung und in Hinblick auf die aktuellen bedrohlichen Krisen für gemeingefährlich halte, zu akzeptieren, im Sinne des Respekts vor den Meinungen anderer. Dummheit mag ein Menschenrecht sein, gefährliche Dummheit ist es sicher nicht. Vor allem, wenn man sie in einer Diskussion nicht erschüttern kann. Aber ich kann erzählen. Erzählen ist sowieso mein größtes Talent, so ich Talente habe. Ich kann erzählen von Menschen, ihren Biografien, ihren Anstrengungen, ihr Glück zu machen, was sie hoffen, was sie tun, wie sie lieben, wie sie scheitern – das alles geschieht innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen, und das sind heute für uns eben die der Union mit all ihren inneren Widersprüchen und Blockaden, und die Dynamiken, die im Alltag für uns alle eben in Summe das ergeben, was wir die Realität nennen, dazu noch die dynamischen Beziehungen zu unseren Nachbarn, ob sie jetzt in die EU hinwollen oder einen nationalistischen Aggressionskrieg führen, dessen Auswirkungen nicht bloß sachbuchgerecht abstrakt allgemein sind. Ich meine, das ist die ureigene Aufgabe des Romans: seine Zeitgenossenschaft in Erzählung zu fassen. So zu erzählen, dass die Zeitgenossen sich erkennen, und spätere uns verstehen.


Sie haben viel Lob und viele Preise bekommen, aber viele Kritiker wundern sich doch, warum Sie unbedingt ein politisches Thema, wie es die EU ist, in ihren Romanen verarbeiten.

Statt einen schönen Liebesroman zu schreiben? (lacht). Auch ein Liebesroman ist nur plausibel und interessant, wenn irgendwie mit erzählt wird, in welcher Zeit und unter welchen Bedingungen sich die Menschen auf welche Weise und in welchen Erwartungen verlieben. Da sind wir schon wieder beim Politischen. In Deutschland ist aber kein Epochenroman entstanden, der von der «Liebe in Zeiten der Kohl-Ära» erzählt hätte. Mich wundert das Wundern dieser Kritiker. Es sind dieselben, die gefordert hatten, dass unbedingt Romane darüber geschrieben werden müssen, wie sich zwei Staaten mit unterschiedlichen politischen Systemen vereinigen. Ein zutiefst politisches Thema. Der deutsche Mauerfall- und Wiedervereinigungsroman! Zu Dutzenden geschrieben und von Kritikern gewünscht. Finde ich auch wichtig. Aber erschütternd finde ich, wenn sie nicht begreifen, dass Deutschland nicht allein ist auf der Welt, schon gar nicht in Europa.


Sie haben bereits in ihrem letzten Roman und einem grundlegenden Essay zu Europa auf diese Probleme hingewiesen. Ist der neue Roman «Die Erweiterung» nun nach der Analyse programmatisch zu verstehen?

Ja, aber die Themen sind unterschiedlich. Der Roman heißt ja «Die Erweiterung», im doppelten Wortsinn: Er erweitert zum einen das Feld, in dem ich beobachte und erzähle, wie wir heute leben, was wir machen, welche Sorgen und Probleme wir haben und wie wir versuchen, sie zu lösen – und wie wir scheitern. Das geht also über das früher geschilderte Beamtenmilieu in Brüssel hinaus. Und zum anderen geht es hier auch um die EU-Erweiterungs-politik am Beispiel von Albanien. Da gibt es ja ebenso unglaublich interessante Phänomene zu beobachten, die auch in den Alltag der Menschen einsickern. Warum wollen Menschen in die EU hinein, setzen Hoffnungen in diese Perspektive, während Menschen in Mitgliedstaaten aus der EU hinauswollen und für ihre Hoffnungslosigkeit die EU verantwortlich machen? Auch das kann man am Beispiel einer Liebesgeschichte erzählen: Ein europäischer Beamter verliebt sich in eine Albanerin. Da prallen Kulturen und Mentalitäten aufeinander, Geschichte, die Geschichten erzählt. Das ist spannend.


Ist inzwischen der Nationalismus letztlich der größte Feind der EU geworden, weil die EU die Menschen einfach nicht erreicht hat?

Ja, und was Nationalismus in letzter Konsequenz bedeutet, sehen wir ja auch am Ukrainekrieg. Putins Überfall ist nationalistisch begründet, und gleichzeitig wird dadurch aus der Ukraine, einem Staat in Konstruktion, eine Nation in Konstruktion. Denn der Widerstand schweißt das Land nun wirklich zu einer Nation mit einem wachsenden Nationalismus auf Basis der Heldensagen zusammen, die jetzt geschrieben werden. Das ist natürlich in dieser Situation verständlich, aber es ist trotzdem gespenstisch, dass die nationalistische Aggression mit Nationalismus beantwortet wird, während man ihnen verspricht, dass sie nach einem Sieg in die nachnationale Entwicklung der EU aufgenommen werden.


Viele stellen sich das künftige Europa als «Vereinigte Staaten von Europa» vor, das stellt ja die Nationalstaaten nicht in Frage.

Das stimmt. Aber will das wirklich ein Pro-Europäer, der darüber nachdenkt? Bei «Vereinigte Staaten» denkt man natürlich an die USA. Die sollen ein Vorbild sein? Die USA entstanden durch gewaltsame Eroberung des Territoriums, wurden geeint in einem blutigen Bürgerkrieg und haben dann eine Nation gebildet. Die EU ist in ihrer Idee in jedem Punkt das Gegenteil: Territorium auf der Basis von freiwilligem Beitritt, Einigung durch Entwicklung von Gemeinschaftsrecht und als Ziel die Überwindung der Nationen. Dadurch auch die Überwindung des Ungleichgewichts zwischen großen, kleinen und kleinsten Nationalstaaten.


Wie würde das aussehen?

Der Idee gemäss sollten anstelle der Nationen ungefähr gleich große Regionen zu verwaltungspolitischen Einheiten werden, die ja die tatsächliche Heimat der Menschen sind. Beispiel: Ein Bayer ist kein Hamburger, und die Idee, dass beide Deutsche sind, ist die Vorstellung einer Solidarität auf Basis von Ethnie und Sprache aus dem 19. Jahrhundert. Als Wiener kann ich ja auch eine österreichische Nationsidee nicht nachvollziehen. Weshalb sollte ich für einen Tiroler mehr Solidaritätsgefühle hegen als für andere Menschen, nur weil Tiroler denselben Pass haben wie ich? Tirol ist mir fremd, ich habe dort keine Heimatgefühle. Ich kann Tirol da und dort schön finden, ich kann Freunde im Tirol haben, aber ich kann auch den Alentejo schön finden oder den Kanton Wallis und dort Freunde haben. Das Konzept Nation ist mir grundsätzlich unverständlich und hat sich vor allem durch die damit gemachten historischen Erfahrungen überhaupt erledigt. Aber es ist immer noch Realität, und viele Menschen können sich nicht vorstellen, dass es das einmal nicht mehr gibt.


Sind die Menschen dafür zu fantasielos?

Ja. Leider. Wir bräuchten eine Zeitmaschine. Dann würde ich die phantasielosen Menschen zurückschicken in die griechische Antike. Dort sollen sie dann Aristoteles oder Platon fragen, ob sie sich eine Demokratie ohne Sklaven vorstellen können. Die Demokratie ist ja in Griechenland entstanden, wie wir immer wieder ehrfurchtsvoll hören. Und die klügsten Männer dieser Zeit würden antworten: Demokratie sei «téleios», also absolut perfekt, aber ohne Sklaven völlig unmöglich. Und trotzdem haben wir heute eine Demokratie weitgehend ohne Sklavenhaltung entwickelt, zumindest dem Anspruch nach. Also kann man die Fantasielosigkeit der Menschen heute entschuldigen, wenn sich nicht einmal der kluge Platon eine Demokratie ohne Sklaven vorstellen konnte, nur weil er sie gewohnt war. Zugleich zeigt dieses Beispiel, dass Besseres sich durchsetzt, auch wenn es lange dauert. Dem kann in diesem Fall wohl keiner widersprechen. Und überhaupt sollte niemand, absolut niemand, der den Fall der Berliner Mauer erlebt hat, aber ihn noch am Vortag für unmöglich gehalten hatte, heute sagen, dass Wünschenswertes unmöglich sei. Und heute ist das die Frage: Kannst du dir ein demokratisches Europa ohne Nationen vorstellen? Nein? Aber wir müssen versuchen, uns das vorzustellen, und deshalb ist es so wichtig, immer wieder davon zu erzählen. Damit die Menschen endlich aufhören, ihre Hoffnungen auf eine Nation zu setzen, und so nur betrogen werden.


Da kommt wohl aber auch noch der Faktor Mensch dazwischen.

Die Menschen ändern sich von selbst, sie haben sich ja schon insofern geändert, als sie es beispielsweise heute als selbstverständlich nehmen, dass es einen Achtstunden-Arbeitstag gibt. Das war vor nicht allzu langer Zeit noch eine utopische Forderung.


Ist also der Fortschritt in Richtung weg von der Nation eine Evolution und nicht eine Revolution?

Ja, es ist eine Evolution. Eine Revolution gegen die Nationsidee ist natürlich Unsinn, man kann die Nationen nicht von heute auf morgen durch einen Aufstand oder durch Beschluss abschaffen. Man kann allerdings tatsächlich in Realzeit, in unserer Lebenszeit, beobachten, wie die Nation langsam abstirbt. Vor 50 Jahren konnte sich niemand vorstellen, dass nationale Währungen zugunsten einer gemeinsamen abgeschafft werden. Dass es einen europäischen Gerichtshof gibt, und so weiter. Es gibt keinen vernünftigen Grund, weshalb diese Entwicklung nicht weitergehen soll, vor allem im Hinblick auf die multiplen heutigen Krisen, von denen wir wissen, dass keine Nation sie alleine lösen und dies nicht einmal versprechen kann.


Und die Krisen ließen sich durch Gemeinschaftspolitik lösen?

Wir sehen doch immer wieder die Notwendigkeit der Überwindung nationaler Interessen zugunsten der gemeinsamen. Warum helfen die europäischen Staaten der Ukraine? Nur eine gemeinsame Sicherheitspolitik kann doch überhaupt ein Gleichgewicht herstellen, indem verhindert wird, dass Russland immer mehr Gewicht und Territorium bekommt. Kein Nachbarstaat der Ukraine alleine könnte das stoppen. Gemeinschaftspolitik! Wir müssen jetzt eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik diskutieren, und wenn das zu Ergebnissen führt, haben wir das nächste Beispiel für die Überwindung von Nationalismus.


Plädieren Sie auch für eine europäische Armee?

Die Frage ist: Wie kann eine gemeinsame europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik aussehen? Ich plädiere für eine ergebnisoffene Diskussion, kann aber nicht sagen, was die beste Lösung wäre. Ich weiß nur eines: Eine europäische Sicherheit auf Basis eines amerikanischen Oberbefehlshabers ist in meinen Augen keine souveräne europäische Strategie. Und immer, wenn wir gezwungen sind, etwas im Hinblick auf eine national nicht mehr mögliche Lösung zu diskutieren, kommen wir der wirklichen Überwindung des Nationalismus und der Nationen näher. Das ist ein Prozess, der zwar immer wieder Rückschläge erleiden kann, aber bei Gefahr des sonstigen Untergangs besinnen sich doch plötzlich wieder alle auf einen weiteren kleinen Schritt in die Gemeinschaftspolitik.


Hängt die aktuelle Rückkehr zum Nationalismus einiger Staaten mit dem zunehmenden Wohlstand oder eher mit der Kultur zusammen?

Es hängt eher mit den Verlustängsten in Krisenzeiten zusammen, mit den Befürchtungen, dass der Wohlstand kleiner und man zum Verlierer wird. Dazu kommt der Systemfehler der EU: Die Politiker, die letztlich entscheiden, sind die nationalen Staats- und Regierungschefs im Rat. Das ist verrückt: Nationale Staatschefs sollen über die Gemeinschaftspolitik entscheiden. Das können und wollen sie nicht. Sie werden national gewählt und sie wissen, dass sie ihrem Wahlvolk versprechen müssen, es gegen alle anderen zu schützen, zu verteidigen und es zu umsorgen. Gegen die anderen. Da haben Sie den Fehler. Sie haben Sitz und Stimme im europäischen Rat, kommen vom Gipfel zurück, eilen ins Fernsehen und erzählen, wie sie die «nationalen Interessen» verteidigt haben. Es sind Totengräber, Totengräber unserer Zukunft, unseres Friedens, unseres Wohlstands, unserer Freiheit. Sie müssen – siehe Polen und Ungarn – ja auch demokratische Rechte, Medien- und Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung usw. in ihren Ländern abbauen, um national an der Macht zu bleiben. Sie zerstören Europapolitik, zugleich zerstören sie nationale Freiheit und Demokratie.


Sie finden, es gibt keine nationalen Interessen?

Doch. Natürlich gibt es sie. Es sind die Interessen nationaler Eliten. Manchmal werden sie hinter dem Begriff «unsere Werte» versteckt. Interessant ist, was darunter schlummert. Bodenschätze zum Beispiel. Der französische Präsident Macron hat beispielsweise sein Veto gegen Beitrittsverhandlungen mit Albanien zurückgezogen, als ihm klar wurde, dass Albanien das grösste Kupfer- und Chromvorkommen Europas hat. Europäische Werte! Nun sind wir abgekommen von meinem Roman …

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Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 9. Dezember 2022
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.