Bildschirmfoto 2022 12 26 um 01.19.56 Mit Daniel Schwartz im Gespräch, er erforscht die Antike und blickt auf das Judentum von heute 
Yves Kugelmann


Jerusalem (Weltexpresso) - Der Jerusalemer Geschichtsprofessor Daniel Schwartz forscht zum zweiten Tempel und sieht in vielerlei Hinsicht Parallelen zur Gegenwart – ein Gespräch zu Chanukka über Judentum und Geschichte.


tachles: Ihr Kernthema ist der zweite Tempel. Er steht im Zentrum von Chanukka. Es war der letzte, und mit der Zerstörung durch die Römer im Jahre 70 begann eine neue Ära des Judentums. Wie kam es zu dieser Fokussierung?

Daniel Schwartz: Mein Interesse rührt aus den Anfängen meiner Judaistikstudien am Baltimore Hebrew College. Dort gab es einen Experten für die Periode des zweiten Tempels, der so spannend unterrichtete, dass er mich mitriss. Diese Zeitspanne weist in mancher Hinsicht Parallelen zur aktuellen Situation der Juden weltweit auf. Und der Unterschied zur Periode des ersten Tempels ist, dass es zur Periode des zweiten Tempels eine Diaspora gab. Als der erste zerstört wurde, gingen viele Juden nach Babylon ins Exil. Später kehrten zwar viele von ihnen nach Judäa zurück, um den zweiten Tempel zu bauen, aber eine Mehrheit blieb in Babylon. Mit dem zweiten Tempel wurde Jerusalem, wie zuvor, im 6. Jahrhundert v. d. Z. wieder das Zentrum. Aber es gab nun eine große jüdische Gemeinschaft außerhalb Judäas, was Möglichkeiten schuf, die es vorher nicht gegeben hatte. Die Situation war also ähnlich wie die heutige: einerseits ein jüdisches Zentrum im Land Israel, und zur Zeit der Hasmonäer sogar ein souveräner jüdischer Staat im Land Israel, und andererseits eine große Diaspora aus Bürgern anderer Länder, welche oft gern als Juden zweiter Klasse aus israelischer Sicht betrachtet wurden.


Was sind die Unterschiede in den damaligen und den heutigen Beziehungen zwischen Diaspora und Israel?

Während der meisten Zeit des zweiten Tempels hatte die Diaspora keine Erfahrung damit, wegen ihres Judentums verfolgt zu werden. Sie lebten an den verschiedensten Orten und man kümmerte sich nicht darum, dass sie Juden waren – Hauptsache, sie zahlten ihre Steuern und waren gute Bürger. Die Juden gewöhnten sich an diesen Zustand. Heute haben wir die Erfahrung des Holocaust, und in Israel geht man davon aus, dass es weder klug noch gerechtfertigt ist, wenn Juden nicht in Israel leben, weil man der Sache nicht trauen kann. Ein zweiter Unterschied besteht aber darin, dass die Reise- und Transportmöglichkeiten so verschieden von den heutigen waren, dass es nur sehr wenig praktische Gelegenheiten für Juden im Ausland gab, überhaupt etwas mit Judäa zu tun zu haben. Die Frage der Beziehungen war dann also wohl weniger dringlich als heute.


Wurde damals der Begriff «Jude» wesentlich anders aufgefasst als heute?

Es gab in der Antike nur ein Wort, «ioudaios» (griechisch), «jehudi» (hebräisch), das für beides stand: Jude und Judäer. Heute müssen wir uns in allen Sprachen für einen aus zwei möglichen Begriffen entscheiden: Jude oder Israeli. Aber wenn man sagt, man sei Israeli, ist man dann auch ein Jude? Es ist ein wesentlicher Unterschied zu früher, dass wir heute durch das Vorhandensein zweier verschiedener Begriffe die konzeptionelle Möglichkeit und oft das Bedürfnis haben, zu entscheiden, was wir sind. In der Antike passierte es einem in der Diaspora kaum je, dass man sich überlegen musste, wie man zum Land Israel stand.


Können die Begriffe «Juden» und «Israeli» überhaupt getrennt voneinander betrachtet werden?

Vieles in meinen Arbeiten der letzten Jahre hat damit zu tun, dass die Herausforderungen, Belastungen und Möglichkeiten, die durch Israel entstehen, sich sehr von jenen unterscheiden, die sich den Juden stellen, die außerhalb Israels leben. Die Logik eines Lebens als Israeli ist ganz anders als jene eines Lebens als jüdischer Mensch anderswo. Typischerweise erkennen die Leute, dass es den einen und den anderen Weg gibt; sie sagen, dass man sich für den einen oder anderen entscheiden muss.


Gibt es unter jüdischer Betrachtungsweise die Möglichkeit eines säkularen Staates mit verschiedenen Religionen und Abstammungen seiner Bürger?

Ja, ich denke, dass dies definitiv möglich wäre. Es ist ja heute schon die Situation des Staates Israel – es gibt einen Staat mit Bürgern verschiedener Religionen. Das Problem besteht eher darin, dass viele Juden Mühe damit haben, es zu akzeptieren. Sie möchten ja irgendwie doch, dass Israel ein jüdischer Staat bleibt. Diese Fragen kommen ja laufend hoch: Kann man es wirklich auf beide Arten haben?


Sie beschäftigen sich täglich mit den – im Gegensatz zur Verfassung – heiligen Texten über Israel. Macht es einen großen Unterschied, welchen da man heranzieht?

Ja, da gibt es große Unterschiede. Ein Beispiel: Im zweiten Buch der Makkabäer, Kapitel 12, wird beschrieben, wie in einer Schlacht der aufständischen Juden jüdische Soldaten den Tod finden. Als nach der Schlacht ihre Körper eingesammelt werden, stellt man fest, dass sie alle Amulette trugen, die sie beschützen sollten. Der Autor des Buchs, ein Diaspora-Jude, ging nun davon aus, dass Gott in seiner Gerechtigkeit darin eine versteckte Sünde sah und sie dafür bestrafte. Der Schreiber verstieg sich in seinem Glauben so weit, davon auszugehen, dass jeder Kämpfer, der in einer Schlacht stirbt, ein heimlicher individueller Sünder sein müsse und damit seinen Tod verursacht. Einerseits gab es jene, die an die echten Grundideen der jüdischen Religion und somit glaubten, dass Gott alles überschaut, gerecht ist, Sünder straft. Andererseits ist es aber schlicht unmöglich, dass eine jüdische Gemeinde wie jene des heutigen Staates Israel, der eine Armee unterhält, akzeptieren könnte, dass Soldaten sterben, weil sie sich versündigt haben. Das ist klar; aber wo bleibt die jüdische Religion? Wo bleibt Gott?


Wie gehen Sie als religiöser israelischer Staatsbürger, der sich täglich mit diesen alten Quellen befasst, mit solchen Unterschieden zur heutigen Realität und Identität um?

Ich habe ja selbst in der israelischen Armee gedient, und als ich 1971 einwanderte, dachte ich, dass alles einfach sein würde. Nach einer Weile begann ich aber vor dem Hintergrund meiner Arbeit über das erste und zweite Buch der Makkabäer – wovon das erste judäisch und das zweite jüdisch ist – zu realisieren, dass dies sehr, sehr verschiedene Arten zu leben sind. Typischerweise gehen die Israeli damit so um, dass sie – wir – einen Bindestrich verwenden. Wir sprechen etwa über Leute, die religiös-zionistisch sind. Aber der Bindestrich löst das Problem nicht wirklich, er steht zwischen zwei sehr unterschiedlichen Dingen. Es ist die gleiche Dualität wie das Leben in einem jüdischen Staat, der auch nicht jüdische Bürger hat, oder jene der jüdischen Religion, die in der ganzen Welt existiert, in einer Epoche in der es auch einen jüdischen Staat gibt.


Es gab ja historisch belegt verschiedene jüdische Staaten. Würde die Thora die parallele Existenz mehrerer solcher Staaten erlauben, oder darf es nur einer sein?

Soweit jemand von einem jüdischen Staat spricht, glaube ich, dass er über den Begriff eines jüdischen Landes spricht, das von den Juden so gut beansprucht werden kann wie Frankreich von den Franzosen – ohne Rücksicht auf den Grenzverlauf. Und der einzige Ort auf der Welt, den die Juden für einen jüdischen Staat beanspruchen können, ist das Land Israel. Bis 70 n. d. Z., am Ende der Periode des zweiten Tempels, betrachteten die Juden das Haus ihres Gottes als den Sitz, den Palast des Königs des jüdischen Landes, und das war in Jerusalem, das folglich die Hauptstadt ihres Landes war. Diese Wahrnehmung wurde jedoch durch die Zerstörung dieses Hauses unterminiert. Von da an hatte Gott keinen Ort mehr außer dem Himmel. Wobei die Rabbiner sagen würden, dass sein Ort in jedem jüdischen Individuum sei, das die Thora lernt und einhält, wo auch immer es sich aufhalten möge. Aber natürlich war immer, wenn es darum ging, einen jüdischen Staat zu errichten, der einzige mögliche Ort dafür das Land Israel – gemäß der Thora und auch historisch gesehen. Mein Problem damit ist eher, dass es zwar einen Staat Israel gibt, der funktioniert, aber er erscheint, erfahrungsgemäß und augenscheinlich notwendigerweise, mit mehr und mehr Entfernung zwischen der säkularen Welt und der jüdischen Religion.


Wie müsste denn der jüdische Staat sein?

Ich weiß noch nicht einmal, ob das möglich ist. Wir haben ziemlich viel dafür aufgewendet, es zu versuchen. Die übliche Formel in Israel lautet ja «jüdisch-demokratischer Staat», mit einem Bindestrich wie in «religiös-zionistisch» im Versuch, beides zu verbinden. Bislang hat das nicht wirklich gut funktioniert, auch wenn die Gerichte Israels versuchen, es besser zu machen.


Ihre Frau ist Baslerin. Nun haben Sie von der Universität Bern den Ehrendoktor dafür erhalten, dass Sie in der akademischen Welt Brücken zu Europa und vor allem Deutschland bauen (vgl. tachles 49/2022). Sind Sie sozusagen durch die Beziehung zur Schweiz zum Brückenbauer geworden?

Als Doktorand hatte ich eine Stelle, für die ich an einem deutschen bibliografischen Diktionär mitarbeitete. Ich schrieb Artikel über Rabbiner, Historiker usw. So fasste ich in dieser Welt Fuß, und vor allem in den Siebziger- und Achtzigerjahren wurden Brücken etwa durch Stipendien und wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Juden und Christen, die sich mit Judaistik beschäftigten, gebaut. Für mich gehört es zur sozialen Verantwortung, zu beweisen, dass eine solche Zusammenarbeit nicht nur möglich, sondern auch lohnend ist. Sie hat gezeigt, dass einige Jahrzehnte nach dem Holocaust ein Neuanfang gemacht werden kann und die heutigen Menschen nicht jene sind, die für den Holocaust verantwortlich waren.


Hätte sich im Vergleich mit den alten Quellen, die Sie studieren, ohne den Holocaust allenfalls die heutige Definition des Judaismus verändert?

Der Holocaust hatte ganz sicher einen Einfluss auf unsere Interpretation der alten Texte. Das trifft für Juden wie für Nichtjuden zu. Ein Beispiel zu den Nichtjuden: Nach dem Holocaust haben die sehr vielen Christen, die ein gutes Gewissen hatten, zu realisieren begonnen, dass das traditionelle Lesen des Neuen Testaments dazu beitrug, den Antisemitismus zu fördern. Was sollten sie also tun, da ja das Neue Testament eine heilige Schrift ist? Sie begannen, es neu zu interpretieren, und seit einigen Generationen wird es nun so interpretiert, dass die Antipathie gegen Juden und den Judaismus, die zuvor wütete, minimiert wird. Der Holocaust schuf, denke ich, einen Fokus auf die Juden als Volk, den es zuvor nicht gab – bei Juden wie auch bei Nichtjuden. Diese Betrachtungsweise, die sehr stark auf den Einfluss des Holocaust zurückzuführen ist, hat in verschiedener Weise auf die heutigen Definitionen des Jüdischseins gewirkt, wie auch auf die Forschung des Judentums in der Antike.

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Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 23. Dezember 2022