Hanswerner Kruse
Fulda (Weltexpresso) - Auch Tanzkunst findet nicht im politikfreien Vakuum statt. Nach dem Überfall auf die Ukraine wurde im letzten Jahr in Fulda der „Schwanensee“ des Russischen Staatsballetts abgesagt. Stattdessen präsentierte nun in der Orangerie ein privates ukrainisches Ensemble Tschaikowskis märchenhaftes Erzählballett, das vom Publikum heftig bejubelt wurde.
Bereits in der alten Sowjetunion besaß das Tanzstück Kultstatus und wurde bei vielen staatlichen Anlässen inszeniert. „Wenn ich daran denke, abends wieder den ‚Schwanensee‘ zu sehen, wird mir schlecht. Nachts träume ich von weißen Tutus gemischt mit Panzern.“ So soll sich Chruschtschow, einst nach Stalin der mächtigste Politiker Russlands, bei der Choreografin Maya Plisetskaya beschwert haben. In der Ukraine sind der „Schwanensee“ und andere sowjetische Kulturgüter nicht länger erwünscht. Das überfallene Land wehrt sich gegen die jahrzehntelange kulturelle Hegemonie Russlands. Der Künstler Oleksii Sai aus Kiew schuf exemplarische Collagen, in denen Balleteusen vor dem toten Putin im blutroten Sarg das Quartett der vier jungen Schwäne tanzen: "Die Rache der Ballerinen" (Foto oben).
Nun zur etwas altertümlichen Aufführung in der Orangerie:
Prinz Siegfried soll heiraten und sich auf einem Fest die Braut aussuchen. In der Nacht davor folgt er einem Zug wilder Schwäne und verliebt sich am „Schwanensee“ in die verwunschene Prinzessin Odette, die erlöst werden kann, wenn ein Mann ihr ewige Treue schwört. Dem bösen Magier Rotbart gelingt es, Siegfried seine Tochter Odile unterzuschieben, der er die geforderte Treue gelobt. Durch diese List müsste Odette ewig eine Schwänin bleiben, aber Siegfried besiegt Rotbart im Kampf und zerstört seine Macht: Der Bann ist gebrochen, die Liebe siegt über das Böse. Im Laufe der 150-jährigen Geschichte dieses Stücks haben sich Handlung und Musik oft verändert, den Schluss gibt es in verschiedenen Versionen.
Wie häufig im Erzählballett wird - auch in der Orangerie - mit viel Pantomime die Handlung erklärt, das wirkt hölzern und pathetisch. Allerdings lösen einige Gruppentänze der Compagnie und diverse Pas de deux diese Schwäche. Dagegen sind die vielen kunstvollen Märchenszenen mit den feenhaften weißen Schwäninnen und die fantastischen Auseinandersetzungen des Guten mit dem Bösen wunderbar choreografiert. Auch im klassischen Ballett mit seinen akrobatischen Figuren werden Tanzende von authentischen Gefühlen getragen, was der edlen Odette und dem bösen Rotbart gut gelingt. Aber ein gestreckter Arn hierhin, ein gestreckter Arm dahin: Siegfried ist zwar ein kraftvoller Tänzer, seine gefühllosen Gebärdenspiele wirken aufgesetzt.
Odette und Odile werden durch eine Primaballerina dargestellt, als weiße und schwarze Schwänin drückt sie Gegensätze aus. Das ist weder rassistisch (schwarz ist böse), noch frauenfeindlich (anmutig versus lasziv), wie heutzutage häufig bekrittelt wird: Stattdessen wird innerer menschlicher Widerstreit ausgedrückt.
Odette ist großartig als anmutige und dennoch starke weiße Schwänin, als schwarze Schwänin könnte sie mehr Bosheit und Laszivität zeigen.
Aber die Orangerie als Ballettsaal geht gar nicht:
Die Bühne ist zu klein, die tanzenden Schwäninnen drängeln sich oft in Dreierreihen. Aufgrund der flachen Sitzreihen sieht man meist nur Oberkörper der Ballerinen, obwohl das klassische Ballett vom sichtbaren Spitzentanz lebt. Gleichwohl war es insgesamt ein schöner Tanzabend, der nicht durch Panzerfantasien - wie in Chruschtschows Träumen - getrübt wurde. Das begeisterte Publikum konnte - und durfte - die Gräuel des Ukrainekriegs zeitweilig vergessen und dieses fabelhafte Märchenballett genießen.
Solche Bilder gibt es nicht von den Schwanentänzen in der Fuldaer Orangerie
Foto:
© "Die Rache der Ballerinen" Oleksii Sai via https://tanz.dance
© Highlight Concerts GmbH: Fotos aus Schwanensee
Info:
Polina Bulat, Autorin aus Kiew, ist derzeit gezwungen, nur Zaungast der Geschehnisse ihrer Heimat zu sein. Aber kenntnisreich zeigt ihre Recherche, was die Ukraine heute zum Tanzen bringt. Es geht nicht um den Krieg. Es geht um die Frage nach dem guten Leben. Es ist der Krieg, der diese Frage stellt. Sollte je Frieden herrschen, erst dann geht die Kunst wieder nach Geschmack und nach Brot.
Zeitgenössischer Tanz in der Ukraine