Sarah Kenderdine ist seit 2017 Professorin für Digitale Museologie an der EPFL, sie leitet das Labor für experimentelle Museologie – ein Gespräch vor der Art Basel
Yves Kugelmann
Basel (Weltexpresso) - tachles: Sie beschäftigen sich als Akademikerin mit den Museen der Zukunft. Was ist da Forschung, was Kreativität und was Science Fiction?
Sarah Kenderdine: Der grosse Rahmen dessen, was wir untersuchen, kann mit «Computer-Museologie» beschrieben werden – wie kann man maschinelle Intelligenz mit Kuratierung und Ontologie mit Visualisierung verbinden? Und wie kann man das Publikum in diese riesige Datenwelt eintauchen lassen? Ein gutes Beispiel ist ein grösseres, vom Nationalfonds finanziertes Projekt, das 200 000 Stunden Videos aus vier Sammlungen umfasst. Die grossen Museen und Archive haben in den letzten 30 Jahren enorme Summen in die Digitalisierung dieses Materials investiert, aber es gibt praktisch keinen öffentlichen Zugang dazu. Wie schauen wir nun in diese gewaltigen Sammlungen bewegter Bilder, um festzustellen, was sie enthalten? Bei diesem Kampf mit Datenmengen kommt die Visualisierung durch Computer, das maschinelle Lernen, ins Spiel. So können wir neue Erfahrungswelten dieser Art von Sammlungen untersuchen. 2019 haben wir beispielsweise das Archiv des Montreux Jazz Festival mit 11 000 Stunden Videoaufnahmen bearbeitet und 5400 Auftritte in eine Form gebracht, die durch das Drücken eines einzelnen Auswahlknopfs einem ganz normalen Publikum nähergebracht werden können.
Sie waren ursprünglich Meeresarchäologin. Was ist für Sie letztlich wichtiger: das Original des Kunstobjekts oder dessen digitales Bild?
Beides ist wichtig. Wir arbeiten ja mit den Originalobjekten, derzeit in einem grossen Digitalisierungsprojekt für das Murten-Panorama, das 1893 gemalt worden ist. Es ist 100 Meter lang und 10 Meter hoch und ein wichtiges Zeugnis der Schweizer Geschichte, das jedoch nicht in der Öffentlichkeit gezeigt wurde. Wir sprechen vom «digitalen Zwilling» der realen Objekte und wir sind in der Lage, einen noch nie dagewesenen Zugang zu diesem Bild zu schaffen, um eine sehr starke Erfahrung zu erzeugen. Digitale Zwillinge können sogar dazu verwendet werden, dem Betrachter die mit dem Original verbundene Aura zu vermitteln. Auch die Hüter von Kunstschätzen können die Blockchain nutzen, um den Menschen diese hochwertigen, digitalen Zwillinge zugänglich zu machen und gleichzeitig ihre Objekte zu schützen. Dies ist ein sehr hilfreiches Instrument für sie.
Würden Sie eine Kopie der Berliner Nofretete aus einem 3D-Drucker, die ausgestellt wird, auch als digitalen oder sogar «reellen» Zwilling akzeptieren?
Ja, absolut. Replikas gibt es ja seit Langem. Schon Henry Cole, der Gründungsdirektor des Victoria and Albert Museum, schrieb, wenn man eine gute, originalgetreue Kopie mache, so sei dies für Schulungszwecke sehr wichtig. Die sehr beliebten «Cast Courts» im Victoria and Albert Museum bestehen aus vielen Replikas. Replikas und digitale Zwillinge sind speziell für die vielen heute durch Klimawandel, Kriegsführung oder Massentourismus stark gefährdeten Kunstschätze der Menschheit wesentlich, insbesondere wenn die Stätten gar nicht zugänglich sind. Die Frage ist, wie man sie im musealen Kontext darstellt, und sehr oft wird das schlecht angegangen, weil diese Arbeit einfach Digitalisierungstechnikern übergeben wird. Aber es ist eben keine technische, sondern eine kuratorische Aufgabe.
Wie definieren Sie in Ihrer Arbeit quasi als Übersetzerin von Erbe in neue Formate Ihr persönliches Ziel?
Mein Ziel ist es, Museen und Archive zu unterstützen und ihnen zu helfen, neue Geschichten über ihre Objekte auf ausdrucksstarke Weise zu erzählen. Immersive Erlebnisse sind heute zu einem Schlagwort geworden, aber eigentlich gibt es diese Bemühungen schon seit dem 19. Jahrhundert, sogar schon bei den Höhlenmalereien. Heute beschäftigen wir uns vor allem mit stereografischen Bildern, die nachweislich eine kinästhetische Wirkung auf die Aktivierung des menschlichen Körpers haben. Ein entscheidender Punkt ist auch, dass wir im Massstab 1:1 arbeiten, um den Besuchern ein naturgetreues Seherlebnis zu ermöglichen.
Ihre Arbeit hat auch Unterhaltungswert. Wie halten Sie das Gleichgewicht zwischen Wissenschaft, Ethik und Unterhaltung?
Ethik ist eine wesentliche Seite der Sache, vor allem in Hinblick auf Unterhaltung. Jedenfalls aber versehen wir die Dinge nicht explizit mit Etiketten, wir beschreiben sie nicht in langen Worten. In multimedialen Darstellungen von Museen sieht man oft, dass sie versuchen, alles vorhandene Wissen auf ein einziges Interface zu bringen, was eine Katastrophe ist. Die Aufgabe bestünde aber eigentlich darin, gründlich zu recherchieren, die grösste Stärke herauszufinden und diese in eine geeignete Technologie zu übersetzen, um sie zugänglich zu machen. Ethisch ist es auch grundsätzlich wichtig, dass die Bilder der Kunstschätze immer in den Besitz ihrer Bewahrer bleiben, auch wenn sich natürlich in jedem Fall die Frage stellt, wie man all diese Daten archiviert. Universitäten sind nicht unbedingt der richtige Ort für die langfristige Aufbewahrung des digitalen Kulturerbes, selbst wenn sie diese Daten erstellen, sie sollten bei jenen Organisationen angesiedelt sein, die einen Auftrag zur «Bewahrung auf Dauer» haben, wie Museen und Bibliotheken.
Welches Museum weltweit würden Sie heute als ideal bezeichnen und einen Besuch empfehlen?
Die Mehrheit der grossen Häuser funktioniert heute noch immer sehr klassisch. In kunst- und naturwissenschaftlichen Institutionen wie unseren École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL)-Pavillons ist man schon ein Stück weiter, und wir benützen diese Institution, um die Welten von High-End-Technologie und kulturellem Erbe in neuen museografischen Formaten zusammenzubringen. Auch Medienkunstmuseen, einige wegweisende wie etwa das Haus der Elektronischen Künste in Basel und das grosse Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe, sind zukunftsträchtige Beispiele.
Im herkömmlichen Sinn ist ein Museum ein Haus mit einer Sammlung. In Ihrem Sinn ist das nicht notwendigerweise so.
Richtig. Auch wir verwenden zwar in unserer Arbeit oft den Begriff «Museum», weil wir ja Ausstellungen machen, aber es geht vielleicht mehr um eine «Galerie», weil es zwar keine herkömmliche, aber dafür eine reichhaltige digitale Sammlung gibt. Wir kuratieren und produzieren ja ständig Neues. Einer der grossen Wechsel, die in Museen indessen vor sich gehen müssen, ist die Frage, wer verantwortlich ist für den technologischen Wandel. Bevor wir nicht Direktoren und Kuratoren haben, die grundlegend verstehen, wo und wie man Technologie einsetzen kann, werden wir auf diesem Gebiet nicht viel Innovation erleben. Diese Generation wird kommen, aber sie wird derzeit noch durch Hypes auf dem Markt informiert, deren Schwemme es den Museen schwermacht. Es wird Zeit brauchen, herauszufinden, was es braucht, den paradigmatischen Wandel in der Erfahrung zu schaffen.
Wie, glauben Sie, wird sich die Welt bezüglich des Verständnisses von Ästhetik und Bildern und in der Bildung bezüglich des Reellen und Nichtreellen verändern?
Derzeit denken wir an grosse Bildmodelle, wir bewegen uns noch in einer Welt, in der ein Wort ein Bild mit sich bringt – diese Algorithmen sind auf Basis der im Internet erhältlichen Daten aufgebaut. Sie beziehen diese Daten von überall, um neue Bilder zu erschaffen. Dies ist gleichzeitig Fort- und Rückschritt. Künstler empfinden häufig, dass ihnen ihr Lebenswerk gestohlen wird. Aber es gibt ihnen auch die Gelegenheit, neue Arten von Werken zu kreieren. Auch die Fotografie hatte zur Zeit ihrer Erfindung einen ähnlichen Effekt. Auch auf dem Gebiet des ethischen Urheberrechts tut sich derzeit viel: Getty Images beispielsweise klagt gegen KI-Bildgeneratoren wegen Urheberrechtsverletzungen. Das Problem betrifft ja auch digitale Zwillinge, aber die Besitzer der in 3D dargestellten Objekte haben mittels Blockchain eine Kontrollmöglichkeit.
Was halten Sie von der «Alles gehört allen»-Mentalität?
Dem widerspreche ich natürlich. In der Welt, aus der ich komme, ist die Datenhoheit eine extrem wichtige Frage. Sehr viele Daten unterschiedlicher Natur sollten nicht öffentlich sein, und es gibt viele Gemeinschaften, für die die Einstellung, dass Daten für alle zugänglich sein müssten, nicht zutreffen kann. Es ist ja gut, wenn wir Wissen teilen können, aber es gibt Grenzen.
Dann gibt es heute noch diesen überwältigenden «Fake»-Aspekt. Das gab es aber auch in der Kunst doch schon früher?
Ja, das hat es schon immer gegeben. Wir haben auch einen Forscher im Labor, der die «Fakeology» in der modernen Kunst untersucht und herauszufinden versucht, wie viele Kunstwerke diesen bildlichen Ausdruck aufgreifen. Wir wissen, dass eigentlich alles die DNA von etwas anderem in sich trägt.
Im Rahmen einer neuen Collage … Und das tun Sie ja auch, oder nicht?
Collage? Ja, im Sinne von zusammenstellen. Aber meine Welt ist nicht das Schaffen neuer Kunst, sondern dreht sich mehr um Domain-Wissen und um Domain-Spezialisten, mit denen ich zusammenarbeite, um unter Einsatz digitaler Werkzeuge eine neue Vision von etwas zu realisieren.
Wie schulen Sie aus Ihrem Labor heraus die jüngere Generation?
Die Studenten erhalten viel didaktisch und pädagogisch orientierte Information, und all diese Projekte entstammen ja dieser Basis. Viele unserer Projekte dauern ja wirklich lange, vereinen eine Riesenmenge Wissenschaft in sich und resultieren dann in den von uns gemachten Ausstellungen und in den Büchern, die wir veröffentlichen.
Wie kann man die Jungen auf die damit verbundenen Probleme vorbereiten?
In vielen Museen mit moderner Kunst gibt es heute eine Tafel an der Wand, wo steht, man könnte von der Kraft der Objekte überwältigt sein. Und da werden Erziehungsprogramme sehr notwendig, weil es dabei stark um Aufmerksamkeit geht. Wenn man die richtige Benutzeroberfläche baut, werden sie die Leute während Stunden benützen. Die Technologie ändert sich schnell, die grossen Paradigmen verändern sich nicht so schnell. Wir sind Wesen mit einem Körper, und es gibt spezifische Wege, Dinge zu sehen, die für uns wirklich funktionieren. So können paradigmatische Erfahrungen helfen, die Aufmerksamkeit zu konzentrieren, und digitale Instrumente können dabei gut helfen. Wobei aber auch ältere Leute sie gerne benützen, und das ist wichtig – die Interfaces müssen auf alle Altersstufen angepasst sein. Wenn Interfaces Seniorinnen und Senioren nicht interessieren, liegt das an ihrem Aufbau.
Und wie erreichen Sie beispielsweise indigene Völker, die nicht nach unseren westlichen Mustern leben?
Wir machten eine Ausstellung im National Museum of Australia mit Aborigines-Künstlern, basierend auf einer Songzeile aus der Geschichte «Seven Sisters», die zu ihrem heiligen Wissen gehört. Die Älteren der Gemeinschaft wollten die Songzeile erstmals der Öffentlichkeit bekannt machen. Die Künstler erklärten uns ihre Systeme, wählten die Fulldome-Kuppel als Plattform und schufen dann die entsprechenden Bilder. Die Fulldome-Kuppel ist eine eingebürgerte Art zu sehen, auf dem Rücken liegend, in den Himmel blickend. Die Ausstellung ging später um die Welt, und wie immer sah ich auch in diesem Fall meine Verantwortung darin, die fehlende Infrastruktur zu schaffen und sie den Museen zu leihen. Denn dann können sie erstaunliche Dinge tun.
Sehen Sie in Ihrer Arbeit auch eine Verantwortung für die Konservierung des Erbes?
Nein, wir sind nicht auf Konservation oder Restaurierung spezialisiert und arbeiten dafür mit Experten zusammen. Ein digitaler Zwilling kann vor und nach der Konservierung erstellt werden.
Sie beraten auch Museen in Israel. Wie ist das entstanden?
Das Interesse ist ziemlich neu, aber es gibt in Israel grosse Ambitionen einerseits bezüglich technischer Innovation und andererseits eines legendären kulturellen Erbes. Die Gesellschaft ist sehr auf Hightech orientiert, aber auch sehr in ihrem tiefgehenden, traditionellen kulturellen Erbe verwurzelt. Unsere Arbeit ist für Israel interessant, weil wir diese zwei Elemente potenziell verknüpfen und damit neue Erfahrungen schaffen können, die sowohl für Innovation und Technologie wie für Innovation und Erzählung stehen.
Ist künstliche Intelligenz für Sie eine gängige Währung?
Ja, wir benützen sie ständig, vorwiegend Computer-Visionierung, maschinelles Lernen und tiefes Lernen.
Ersetzt KI langsam die menschliche Kreativität?
Wir sind definitiv eine Menschheit in der Warteschlaufe. Aber die meisten IT-Wissenschaftler, mit denen ich gesprochen habe, sehen die Grenzen der KI. Es sind die von Nichtspezialisten weltweit verbreiteten Gerüchte, dass Roboter bald in vielem die Menschen ersetzen, welche diese Ängste schüren. Daran glaube ich nicht, wenn auch in zehn Jahren viel passieren kann. Die Leute, die diese Systeme entwickeln, wissen ja auch, dass sie noch einen langen Weg vor sich haben. Es ist doch so, dass Menschen die zur Verfügung stehenden Systeme benützen, und nicht umgekehrt.
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Sarah Kenderdine entwickelt neue Techniken zur Vermittlung und erfindet das Museum von heute und morgen neu
©tachles
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