Das kleine Waldhäuschen im Nordschwarzwald
Sabine Zoller
Marxzell (Weltexpresso) - Exakt auf halbem Weg zwischen Ettlingen und Bad Herrenalb liegt die Gemeinde Marxzell, wo sich Hans Thoma 1906 sein „kleines Waldhäuschen“ kauft. Thoma, der um die Jahrhundertwende zum beliebtesten Landschafts- und Portraitmaler in Deutschland zählt, war Direktor der Karlsruher Kunsthalle und im Sommer 1905 mit Freunden beim Kloster Frauenalb unterwegs. In seinen Lebenserinnerungen berichtet er: „Das Albtal wurde uns vertraut, und das Jahr darauf kaufte ich das kleine Waldhäuschen in Marxzell, wo wir dann bis jetzt fast jeden Sommer ein paar Wochen zubrachten.“
Seine „Aus acht Jahrzehnten gesammelte(n) Erinnerungen“ verfasst er am Ende des 1. Weltkriegs. „Ich sitze in meinem Waldhäuschen Marxzell, wo wir gerade noch, es ist August 1918, von Ferne die Fliegerabwehrkanonen von Karlsruhe her hören.“
Das kleine Sommerdomizil im Albtal, das auf einem sanften Hügel vor den dunklen Wäldern liegt und einen traumhaften Ausblick auf die in der Sonne glitzernde Alb bietet, ist zum Rückzugsort geworden, ist eine Oase mitten in der Natur. Eine Fotografie, die wohl Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ist zeigt das Sommerhaus ganz rechts am Bildrand auf dem Weg nach Burbach direkt hinter der Marxzeller Kirche. Noch führen mangelhafte Verkehrswege ist das Tal, das durch Mühlen und Sägewerke sowie Waldweide und Sammeln von Laub zur Einstreu in den Viehställen landwirtschaftlich genutzt wird. Erst die Dampflokomotiven der Albtalbahn haben das Tal mit den Teilstrecken Ettlingen–Frauenalb am 14. Mai 1898 und Frauenalb–Herrenalb am 2. Juli 1898 erschlossen, das fortan zum beliebten Ausflugsziel der Karlsruher Bevölkerung zählt.
Der im 19. Jahrhundert weit verbreitete Begriff „Sommerfrische“ wird im Wörterbuch der Brüder Grimm (Bd. 16, Sp. 1526 bis 1528) als „Erholungsaufenthalt der Städter auf dem Lande zur Sommerzeit“ definiert. Mit der Erschließung des Albtals durch die Eisenbahn entfiel das aufwändige und unbequeme Reisen mit der Pferdekutsche. Die Sommerfrische wurde in der Aristokratie und dem wohlhabenden Bürgertum zum festen Bestandteil des Sommerlebens und meist in einem eigens dafür eingerichteten Sommersitz verbracht. Zu einer dieser unbeheizbaren Sommervillen zählt auch Thomas „Waldhäuschen“. Für das ursprünglich als Jagdhaus genutzte Gebäude musste sich der Maler zunächst um eine Wasserleitung bemühen, die schließlich 1908 in Betrieb genommen werden konnte. Gebaut aus Backsteinen und ausgestattet mit einer einfachen Fensterverglasung waren in den Wintermonaten Eisblumen an den Fenstern keine Seltenheit, wie die heutigen Besitzer des Hauses zu erzählen wissen.
Nach dem Tod des Malers kaufte ihr Großvater, Professor Franz Edelmann, eben dieses Waldhaus als Sommersitz für seine Familie aus Karlsruhe. Das war in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts - wer konnte denn ahnen, dass im zweiten Weltkrieg das Wohnhaus in der Hindenburgstrasse zerstört und das „Waldhäuschen in Marxzell“ zur dauerhaften Bleibe der Familie avancieren würde? Bis heute hat sich das Haus nur unwesentlich verändert. Der freie Blick ins Tal ist nach wie vor derselbe wie diesen einst Hans Thoma genießen konnte. Seit 1953 als Landschaftsschutzgebiet ausgewiesen, zeigt das Landschaftsbild noch heute eine Talwiesenlandschaft mit zum Teil wechselnden Wasser-, Boden-, Gesteins-, und Höhenverhältnissen - lediglich die Tannen rund um das Haus sind größer geworden.
Das „Thoma-Häuschen“, wie das Waldhäuschen noch lange im Volksmund genannt wurde ist heute aber vielen unbekannt. Kein Schild und keine Hinweistafel am Haus geben darüber Auskunft, daß der Landschaftsmaler Hans Thoma hier sowohl arbeitsreiche als auch sonnige Tage verbrachte.
„Ich habe gerade hier immer so ganz für mich gearbeitet“, schreibt Thoma rückblickend und ergänzt: „Bei dem beschränkten Raum konnte ich nicht viel anderes machen als radieren – aber es entstanden auch ein paar große Bilder von unserem Garten aus gesehen.“ Der leidenschaftliche und variantenreiche Zeichner, der als Jugendlicher kurzzeitig eine Lithographenlehre durchlief, begann erst im Alter von 52 Jahren mit dem Radieren. Mit der Radiernadel konnte er seine Ideen auf einer Zinkplatte direkt umsetzen und das „zum Ausdruck bringen was der Kopf mit seiner Phantasievorstellung denkt.“ Mit so einer Platte war es möglich, beliebig viele Drucke herzustellen, was die Kunstdruckerei Künstlerbund Karlsruhe (KKK) ab 1903 übernahm. (Katalog S. 193)
In seinem Garten ist im Jahr 1911 ein Bild in Öl auf Leinwand entstanden. Es trägt den schönen Titel „Junimorgen in Marxzell“. Die saftigen Wiesen und üppigen Wälder sind durchzogen von dem kleinen Flüsschen Alb, das bei Karlsruhe in den Rhein mündet. Eine Besonderheit der landwirtschaftlichen Nutzung stellt zu Beginn des 19. Jahrhunderts das planmäßig ausgebaute Wässerwiesen-System dar. Auf dem Bild sind zwei Figuren auf den landwirtschaftlich genutzten Flächen zu sehen. Die Bewässerung ermöglichte einen zweiten Schnitt (Öhmd), und in guten Jahren mit warmen Spätsommertagen sogar einen dritten Schnitt (2. Öhmd). Auf den engen Talwiesen waren die Bauern zur damaligen Zeit darauf angewiesen möglichst hohe Erträge zu erwirtschaften. „Aus Liebhaberei“ zu seinem Sommerhäuschen und Gärtchen malt Thoma „mitten im mörderischen Kriegsjahr 1915“ ein weiteres Ölbild. Die Ansicht ist geblieben, aber die Bauern sind verschwunden und dunkle Wolken sind über zwei spielenden Kindern aufgezogen. Tituliert mit „Glücklicher Sommertag in Marxzell“ wird es 2016 bei einer Auktion für 60.000 Euro angeboten.
Thomas vielschichtiges malerisches und zeichnerisches Können bringt ihm erst im Alter von 51 Jahren den gewünschten Erfolg. In seinen Erinnerungen vermerkt der Künstler: „Bei meinen alten Papieren fand ich ein Verzeichnis der in frühern Jahren verkauften Bilder. Die Preise sind erschreckend.“ 1839 in Bernau geboren, wächst der Maler in bescheidenen bäuerlichen Verhältnissen auf. Schon im Südschwarzwald beginnt er als Kind „eifrig nach der Natur zu zeichnen.“ Und später steckt er an Sonntagen „ein Mäpplein unter den Rock und ging in den Wald, wo ich an möglichst verborgenen Orten Bäume abzeichnete – heimlich – ich wollte nicht von den Leuten im Ort ausgelacht werden“. Doch sein Talent bleibt nicht verborgen. 1859 erhält er ein Stipendium an der Karlsruher Kunstschule und vervollständigt seine Ausbildung in Düsseldorf, Paris, München und Frankfurt am Main. Zur Ergänzung seiner Studien reist er fünf Mal nach Italien bevor er den großen Durchbruch 1890 in München erlebt. Seine steigende Bekanntheit führt ihn 1898 zur Professur an der Karlsruher Kunstakademie und im Jahr darauf zum Direktorat der Karlsruher Kunsthalle, das er bis 1919 inne hat.
Fotos:
© Sabine Zoller