glue light blue HP1 70 KopieEine eindringliche Gastchoreografie des Israelis Nadav Zechner mit dem Hessischen Staatsballett

Hanswerner Kruse

Darmstadt (Weltexpresso) - Tanzfrühling in Hessen. In Darmstadt ist nicht nur der Himmel hellblau, sondern auch der Tanz. Die offene Bühne hat einen blau-glänzenden Boden, auf im zappeln bereits 35 geometrisch angeordnete Steinbrocken an Drahtseilen, als das Publikum den Saal betritt. An den Bühnenwänden hängen hellblau und rostbraun eigefärbte Platten. 
glue light blue HP1 76 kopieDann wird es dunkel. Dampf steigt auf. Tiefes Grummeln ertönt, die ganze erste Tanzphase lang. Eine sehr künstlich wirkende, blau gekleidete Figur mit rostbraunem Ornat taucht aus einer Luke auf, tanzt am Bühnenrad zunächst nur mit den Augen, dann mit zitternden eigenartigen Bewegungen. Weitere, ebenso bekleidete Tänzerinnen und Tänzer, erscheinen nach und nach aus dem Nebel, bewegen sich akkurat und gradlinig zwischen den Steinen.

Irgendwann hört das Gegrummel auf, Das Ensemble streift die Ornate ab, alle werden zu kommunikationsfreudigen hellblauen Wesen mit rostbraunen Beinen. Ihre Bewegungen verflüssigen sich, sie entfliehen der Strenge, blubbern gelegentlich wie Kleinkinder. Paare begegnen sich, mal agieren sie zusammen in exotischen, mal in alltäglichen Pas de Deux. Zuweilen frieren sie an den Wänden ein, verschmelzen dann gleichsam mit dem Hintergrund. Ihre Annäherungen verändern sich unaufhörlich. Blitzschnell. Eben noch freundlich. Dann skurril. Abweisend. Fröhlich.

Kurz beginnen Immer neue Erzählungen , brechen wieder und wieder ab oder verändern sich.

Bildschirmfoto 2024 05 06 um 12.27.09Zu rhythmisch-arabischer Musik finden sich zwei Gruppierungen, die Steine werden in die Höhe gezogen, wirken wie Lampen. Darunter beginnen wilde fröhliche Tänze - und die Steine tanzen mit. Sie gehen rauf und runter, hängen bedrohlich über der liegenden Compagnie. Doch heiter befreien sich die Tanzenden. Die Brocken verschwinden in der Höhe. Etliche Figuren hopsen munter in die Luke am Ende der Bühne.


Zwei Frauen winden sich am Boden, küssen sich in die Vertikale, verknoten sich zu einem hocherotischen Pas de Deux, lösen sich irgendwann voneinander. Wassergeplätscher ertönt, erst finden sich weitere Paare, dann das ganze achtzehnköpfige Ensemble in immer neuen Bewegungsbildern zusammen. Längst sind sie alle nur noch hellblau gekleidet, während Boden und Wände ganz rostig-braun geworden sind. Sehr intensiv treibt das Ensemble lange Zeit ohne Pause über die Bühne, reißt das Publikum mit sich in immer neue Welten. 

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Das Stück endet nach über einer Stunde wie es begann: düsteres Grummeln ertönt, es wird dunkler, die Steine fallen herunter, die Tänzerinnen und Tänzer sind verschwunden. Geht es am Ende wieder zurück zum Anfang? Ist „glue light blue“ ein Kreislauf?

Das bleibt offen, aber etwas beklemmend ist die Situation durchaus - obwohl Staunen und Faszination über dieses choreografische Werk überwiegen.



Denn selten haben sich in einem Tanzstück Bühnenbild, Licht, Kostüme und Musik derart innig mit den Tanzenden verwoben. Nichts ist Hintergrund, Verkleidung oder Requisite. Gemeinsam bildend die Tänzerinnen und Tänzer mit allen Medien immer neue fantastische Tableaus. Miteinander verschmilzt alles zu einem intensiven choreografischen Gesamtkunstwerk, in dem es offensichtlich um Kommunikation, Befreiung, Selbstfindung geht.  Die großartigen Bewegungsbilder sind kein Selbstzweck, sondern ständig vielschichtige, sich überlagernde, aber auch extrem kurze Erzählungen.

Nadav Zechner sagt dazu im Interview (Auszug Programmheft):

„...Für mich ist jede Bewegung eine Geschichte. Es können biografische Geschichten sein, aber auch ganz allgemein Erlebnisse des Alltags. Tanz ist für mich eine Spurensuche. Ich bitte die Tänzerinnen und Tänzer, sich mit mehreren Geschichten gleichzeitig zu verbinden und dies körperlich auszudrücken. Zum Beispiel zu schreien, sich zu kratzen oder in eine bestimmte Richtung zu schauen. Die Inspiration für diese Geschichten nehme ich von überall her. Von den Dingen, die mir im Leben passieren, den Menschen, denen ich begegne, von Farben, Filmen, Büchern, der Natur oder Musik. Während des Choreografierens denke ich meist nicht darüber nach, vieles ergibt sich intuitiv: Es bleibt im Prozess, bevor es für mich funktioniert, oder ich lerne es erst mit der Zeit kennen. Das Interessante ist: Hinter jedem Teil der Choreografie, ob in der Gruppe, Solo oder Duett, steckt eine Geschichte, und ich kann mich an die Entwicklung und den Prozess dahinter erinnern. Wie bei einem Tagebuch.“

Fotos
© Andreas Etter / Hessisches Staatsballett

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Weitere Termine in Darmstadt: 
8. und 11.Mai jeweils 19.30
19. Mai 18 Uhr,
31. Mai und 20. Juni jeweils 19.30 Uhr,
21. Juni 11 Uhr,
30. Juni 18 Uhr,
4. Juli 19.30 Uhr