Hanswerner Kruse
Kassel (Weltexpresso) - Das ausverkaufte Kasseler Staatstheater präsentierte Wolfgang Amadeus Mozarts „Requiem“ im Rahmen des Themas Tod in dieser Spielzeit. Mit Ovationen im Stehen bejubelte das Premierenpublikum das mutige, experimentelle Gesamtkunstwerk „Selig sind die Toten“:
Zur Musik des Staatsorchesters und Gesängen des Opernchores tanzt das Ensemble „Tanz_Kassel“. Dazu wird der unvollendeten Todesmesse des Komponisten - im Wechselspiel mit seinen klassischen Klängen - zeitgenössisches Sound-Design hinzugefügt.
Der Vorhang hebt sich, die Bühne liegt im Dunklen. Vage erkennbar eine Menschenkette mit Grablichtern, die langsam nach vorne schreitet. Es ist der Chor, der bald das „Requiem“ anstimmt, um Ruhe und Licht für die Toten zu erbitten. Davor kaum sichtbar eine weiße Gestalt, die sich windet, reckt und streckt. Eine ruhige, meditative Atmosphäre entsteht.
Doch dann grelles Licht in einer kleinen weißen, über der großen schwebenden Bühne. Krasse Technoklänge erdröhnen. Die Gestalt taucht oben auf, nach und nach quellen weitere, nur spärlich bekleidete Menschen aus der Notausgangstür herein. Später farbiges Licht. Wilde Tänze. Viel Geschrei. Dann Stille, die Orchesterbühne fährt hoch. Der Chor erscheint auf der kleinen Bühne, intoniert die „Sequenzen“. Rhythmisch bewegen sich die Singenden, während die Tanzenden mühselig aus der Höhe heruntergleiten.
Auf der Bühne ein Berg Kleider. Die Menschen ziehen sich an, begegnen sich ungestüm zu Mozarts dramatischer Musik. Angesichts des Todes zeigen sie Verzweiflung. Hoffnung. Entkommen. Sich fügen...
Die Company illustriert nicht die Texte der Messe, sondern setzt sie in ihre Bewegungssprache um. Oft frieren die Performenden in den Aktionen ein, schaffen berührende Szenenbilder. Alle Singenden treten ohne Notenblätter auf und werden häufig in die Choreografien eingebunden. Solistinnen und Solisten bewegen sich mitten im Ensemble und kreieren manchmal Pas de deux mit Tanzenden.
Wir erleben den Schmerz, das Ringen, den Trost einzelner Tänzer oder Tänzerinnen angesichts des Todes. Oft werden sie dann von der ganzen Company getragen. Doch manche rennen die Wände zur oberen Bühne hoch. Versuchen zu entkommen. Singende reichen Flüchtenden die Arme. Später tanzen alle oben das bunte Leben, drunten ist die düstere Unterwelt, aus der jetzt Chorgesänge erschallen, später eigenartige Klänge des modernen Sound-Designs. Mitunter werden in expressiven Momenten Wasserwellen auf die Bühnenrückwand projiziert: Sturm kommt auf.
Zum „Lux eterna“ am Ende vermischen sich Chor und Ensemble in Bildern des Abschieds. Choristen gestikulieren verzweifelt. Andere fallen um, liegen am Boden. Umarmen Tanzende und singen vom ewigen Licht für die Seelen der Verstorbenen - womit das „Requiem“ dann ruhig und trostvoll ausklingt.
Viele Synästhesien von Klängen, Tanz und Bildern in diesem Gesamtkunstwerk rauben einem den Atem. Die Bewegungs- und Bühnenbilder lenken nicht von der Musik ab, sondern intensivieren die hervorgerufenen Gefühle. Pathos wird vermieden. Diese Inszenierung der Totenmesse ist kein hypermodernes Event mit Mätzchen, sondern interpretiert zeitgenössisch Mozarts unvollendete Komposition.
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gibt es viele Versuche zur modernen tänzerischen und musikalischen Erweiterung des Werkes. Gastchoreograf Antonio Ruz fordert in Kassel mit diesem Stück: „Wir müssen dem Tod ins Augen sehen, um das Leben anzunehmen. Der Tanz ist dabei ein kraftvolles Kommunikationsmittel, das kulturelle, ethnische, religiöse und politische Barrieren überwindet und eine spirituelle Dimension eröffnet.“
Das ist ihm großartig gelungen!
Fotos:
© Staatstheater / Sylwester Pawliczek
Weitere Aufführungen bis Weihnachten 2024
10. / 17. Nov 2024 jeweils 18:00 Uhr
04. / 6. / 13. Dez 2024 jeweils 19:30 Uhr
22. Dez 2024 16:00 Uhr
Besetzung, weitere Infos und zum Programmheft
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