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Hanswerner Kruse / Hannah Wölfel
Kassel (Weltexpresso) – Unterschiedlicher können Tanzstücke heutzutage kaum sein: Zuerst die zeitgenössische und doch neo-romantische Tanz-Interpretation des Gedichtes „Der Tod und das Mädchen“ zur erweiterten Orchester-Variante Gustav Mahlers. Und dann im zweiten Teil des Abends die fast mathematisch konstruierten, unterkühlten Tänze „Shuv“ zu ebenso konstruierten Klängen des Minimal-Musik-Komponisten John Adams.
„Der Tod und das Mädchen“
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Zwei malträtieren auch mal den dritten Mann. Irgendwie vergnügen sich die Tode mit ihren Fantasien, was sie wohl mit dem Mädchen alles anstellen könnten…
Die Musik verstummt. Drei Tänzerinnen kommen, spielen in der Stille Mädchen beim Spitzentanz. Dann bilden sie mit den Toden drei Paare, locken einander, turteln herum. Bald bedrängen sie sich, weisen sich zurück, ringen leidenschaftlich miteinander, raufen um Nähe und Distanz. Die Musik setzt wieder ein. Mal ziehen sich zwei Paare an die Treppen zurück, überlassen das rote Turnbett einem erotisch-aggressiven Pas de deux, dann verdreifachen sie sich erneut. Irgendwann klemmen sich die Mädchen die Tode unter die Arme, zärtlich aber energisch schleppen sie sie die Treppen hoch. Ganz zum Schluss liebt sich ein nackt wirkendes Paar auf der Matte mit lautem Gelächter.
In der Vorlage von Matthias Claudius, dem Gedicht der „Tod und das Mädchen“, fleht das Mädchen: „Vorüber! Ach Vorüber! / Geh wilder Knochenmann! / Ich bin noch jung, geh Lieber! Und rühre mich nicht an.“ Dagegen säuselt der Tod: „Gibt deine Hand, du schön und zart Gebild! /Bin Freund und komme nicht zu strafen. / Sei guten Muts! Ich bin nicht wild. / Sollst sanft in meinen Arten schlafen!“
Leidenschaftlich und doch beklemmend deklinieren die drei Paare tänzerisch die möglichen und zeitgenössischen Interpretationen dieser Zeilen. Die häufige Verdreifachung verweist wohl darauf, dass es keine eindeutigen Auslegungen gibt, denn das Mädchen ist keinesfalls die Unterlegene und nicht schwächer als der Tod.
Choreografie Andonis Foniadakis, Musik nach der Musik von Franz Schubert.
„Shuv“
Nach der Pause bleibt der Saal zunächst hell. Die Bühne ist völlig kahl, dreht sich langsam. Beduinische Gesänge ertönen. Ein Tänzer hüpft auf die Drehscheibe, eine Tänzerin kommt wackelnd dazu. Dann wird es dunkel. „Shaker Loops“, die krassen Minimal-Klänge von John Adams beginnen. Plötzlich Helligkeit. Das siebenköpfige Ensemble verteilt sich auf der Drehbühne. Einzelne tanzen und laufen auf der Stelle, aber sie kommen nicht vorwärts. Mit ruckartigen, dann erstarrenden Bewegungen werden Arbeitstätigkeiten simuliert. Es folgen andere extreme Bewegungen und eingefrorene Posen einzelner Tänzerinnen und Tänzer.
Immer wieder werden die tänzerischen Abläufe wiederholt, die Tanzenden scheinen in ihren Kreisläufen gefangen zu sein. Manchmal winden sich Einzelne heraus oder ein Pas de Deux versucht in der Mitte eine Befreiung. Unterdessen verteilen sich die übrigen am Rande der Drehbühne, lassen sich treiben, fahren herum und beobachten. Dadurch entstehen auch für uns Zuschauer oft neue Blickwinkel und Perspektiven auf die Tanzenden.
Alle Bewegungen werden von den Klängen, den „Shaker Loops“ begleitet, manchmal vorgegeben. Gelegentlich sind starre Alltagsgesten zu erkennen, die schnell einfrieren. Aber es ist purer Tanz, den wir erleben, der für nichts mehr steht, keine Geschichten erzählt, nicht einmal andeutet. Völlig bedeutungslos entsteht ein ewiges Kommen und Gehen. Das ist bei Adams durch die Loops vorgegeben, im Tanz durch „Shuv“, was im hebräischen „wieder“ bedeutet und auf die Kreisläufe von Leben und Tod verweist. Durch die rhythmischen Wiederholungen entsteht eine geradezu hypnotische Atmosphäre.
Doch diese Wirkung wird radikal gebrochen: Das Stück endet mit beduinischen Gesängen, die in rasende Trommelmusik übergehen. Der abrupte Bruch verweist vielleicht auf das Unkontrollierbare des Lebens oder das Unerwartete im Übergang. Nach der plötzlichen Stille folgt der frenetische Beifall des Kasseler Publikums.
Choreografie Eyal Dadon.
Service Staatstheater Kassel
„Der Tod und das Mädchen“ & „Shuv“
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Fotos:
© Sylwester Pawliczek / Staatstheater Kassel