Eine Reise mit Gintersdorfs & Klaßens Tanz-Ensemble durch die Clubs der Welt
Hanswerner Kruse
Vor kurzem hat Bundespräsident Joachim Gauck unser Tanzjahr ausgerufen, das jetzt mit einem Festival zeitgenössischer Choreografien im Rhein-Main-Gebiet beginnt. Die Festspiele Tanzplattform starteten mit „Not Punk, Pololo“ im Frankfurter Schauspiel.
„Wie bitte?“, ruft eine kleine, weiße Tänzerin unermüdlich zu ihren ruckartigen Bewegungen ins Mikro. Wie bitte, dieser Freistil soll Tanzkunst sein? Lange Zeit fragt man sich, was das unbekümmerte akrobatische, oft erotische Gehopse - das an US-amerikanische Ghettotänze oder westafrikanische religiöse Zeremonien erinnert - eigentlich soll.
Die zu Beginn auf die Bühne geschlurften Musiker entpuppen sich als hervorragende Instrumentalisten, die von Hip Hop, Techno und Rock bis zu afrikanischer Musik alle Stile beherrschen. Zu ihnen gesellen sich neun dünne oder üppige, lange oder kleine, schwarze, braune oder weiße Tänzerinnen und Tänzer, die sich gegenseitig wilde Bewegungen vorführen, sie auch zusammen erkunden, in einen Dialog treten. Dazu rappen sie über ihr Leben, einer erinnert mit seinen hitzigen Gesängen an den jungen James Brown.
Mal fühlt man sich, als wäre man an den Türstehern internationaler Clubs vorbeigeschlichen, mal meint man, den ersten spaßigen Improvisationen einer Compagnie beizuwohnen. Lange ist man aber auch ratlos, verwirrt, verärgert. Wie bitte? Mit diesem seltsamen Treiben soll ein Tanzjahr beginnen? Doch dann kippt der Abend, Tänzer fahren Podeste aus großen Kisten herein, aus denen Tänzerinnen krabbeln und diese Dekoration bespielen. Alsbald schirmt das Ensemble die Bühne mit großen Plastikplatten ab und fordert das Publikum auf, durch einen Spalt nach vorne zu kommen - einem Ansinnen, dem gut die Hälfte folgt.
Die Platten werden weggeräumt, eine gewaltige furiose „Battle“ beginnt, ein Wettbewerb der einzelnen Tänzerinnen und Tänzer, die das Schauspielhaus zum Kochen bringen. Wie bitte, was passiert jetzt, was verändert die Wahrnehmung? Im neuen Tanz gibt es gelegentlich Arbeiten, in denen die Akteure zunächst einzelne Bewegungselemente erforschen, bevor diese dann zu einem Werk transformiert werden.
Ansonsten ergibt dieses Stück der Theaterfrau Monika Gintersdorf und des Bildenden Künstlers Knut Klaßen zum Festivalbeginn durchaus Sinn. Es zeigt, zeitgenössischer Tanz ist weit vom quälenden klassischen Ballett entfernt sowie formal und inhaltlich multikultureller als andere Künste, öffnet sich lustvoll zur Pop- und Undergroundkultur ohne zu verflachen und ermöglicht neue Wahrnehmungen.
„Not Punk, Pololo“ wurde mit elf weiteren Choreografien von einer Jury aus 200 deutschen Produktionen ausgesucht. Die Plattform will alljährlich die Bandbreite des zeitgenössischen Tanzes abbilden, ausdrücklich nicht nur „beste Werke“ zeigen. 2016 trifft die aktuelle Avantgarde auch die klassische Avantgarde - in Darmstadt wird am 4. und 5. März die Rekonstruktion des „Triadischen Balletts“ von Oscar Schlemmer präsentiert.
„Sie sollten sich Urlaub für die Plattform nehmen“, empfahl ein Redner zu Beginn des Abends im Schauspielhaus. Wie bitte? Die Empfehlung kam etwas spät, aber recht hat er, denn es gibt bis zum 6. März neben den 30 Aufführungen der ausgewählten Stücke in Frankfurt, Darmstadt und Bad Homburg zahlreiche Begleitveranstaltungen - vor allem im Frankfurter Mousonturm, dem Ausrichter des Festivals.
Weitere Infos und Tickets unter www.tanzplattform2016.de
INFO:
Das Tanzjahr 2016 soll mit Unterstützung des Bundes den zeitgenössischen Tanz als Kunstform stärker in die Öffentlichkeit tragen und die Vernetzung freier Gruppen mit festen Bühnen fördern. Nach der Tanzplattform wird in Hannover im Juni der Tanzkongress stattfinden, auf dem ästhetisch, politisch und tänzerisch Fragen zur gesellschaftlichen Relevanz des Tanzes beleuchtet werden. Im August gibt es in Düsseldorf die internationale Tanzmesse mit zahlreichen Ausstellern und Veranstaltungen. Sie will einen Überblick wagen, was es derzeit auf der Welt an Tanz gibt.
Foto: © Knut Klassen Mousonturm