Neue Ausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig vom 15. Juni bis 15. Januar 2017
Hubertus von Bramnitz
Leipzig (Weltexpresso) - Mythen verdichten das kaum überschaubare Geschehen der Geschichte zu sinnstiftenden Geschichten. Die neue Ausstellung des Zeitgeschichtlichen Forums veranschaulicht mit rund 900 Objekten wichtige Mythen der Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg und fragt nach möglichen Fundamenten für eine gemeinsame europäische Identität.
Zentrale Exponate repräsentieren ausgewählte mythische Erzählungen, deren Entstehung und Verbreitung die Ausstellung exemplarisch nachgeht. So steht etwa für die „Stunde Null“ das Modell des Dresdner Trümmerfrauen-Denkmals von 1952, für das westdeutsche „Wirtschaftswunder“ der legendäre
VW-Käfer „Ovali“ von 1955, für den Mythos der „Fußballnation“ das Trikot von Jürgen Sparwasser, der 1974 die DDR-Elf zum Sieg über die Bundesrepublik
schoss.
„Deutsche Mythen seit 1945“ ist vom 15. Juni 2016 bis 15. Januar 2017 im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig der Stiftung Haus der Geschichte zu sehen.
Der Eintritt ist frei. Zur Ausstellung erscheint ein umfangreiches Begleitbuch.
Mythen bilden einen wichtigen Teil nationaler Erinnerung, die auch auf diese Weise über Generationen weitergegeben wird. Mit mythischen Erzählungen stärken Nationen ihre Identität. Alte Mythen, wie sie andere Länder bis heute bewahren, sind allerdings in Deutschland fast vergessen. Die Tradition brach 1945 nach dem Missbrauch durch die Nationalsozialisten weitgehend ab. Hermann, der „Befreier Germaniens“, oder Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser haben keine identitätsstiftende Bedeutung mehr. Doch welche neuen Erinnerungserzählungen pflegen die Deutschen heute?
Gründungsmythen
In Demokratien entstehen vielfältige Erzählungen, Diktaturen geben sie vor und kontrollieren sie. Die westdeutschen Gründungsmythen gelten dem Aufstieg aus den Trümmern des Krieges, hart erarbeitet mit Fleiß und kluger Politik, verbunden mit dem Mythos der D-Mark. Ihnen stehen in der DDR die von der SED-Diktatur gesetzten Mythen vom „Arbeiter- und Bauernstaat“ gegenüber, gegründet als „Erbe der Antifaschisten“ nach der „Befreiung durch die siegreiche Sowjetunion“. Seit 1990 entwickeln die Deutschen eine neue gemeinsame Gründungserzählung. Sie verbindet die Erinnerung an die friedliche Revolution von 1989 mit der Wiedervereinigung.
Mythische Selbstbilder
Viele mythische Erzählungen haben in Ost und West ihre Wurzeln in der deutschen Selbstverpflichtung zum Frieden und zur Abgrenzung von der nationalsozialistischen Vergangenheit. Aktuelle Mythen präsentieren die Deutschen als vorbildliche Europäer, als Vorreiter im Umweltschutz oder als siegreiche Fußballer. Anhand der Kampagnen „Du bist Deutschland“ und „Wir sind Papst!“ zeigt die Ausstellung Versuche gezielter Mythenbildung durch Politik, Wirtschaft und Medien.
Nationale und europäische Mythen
Europa entwickelt derzeit keine gemeinsamen Mythen. Ansätze, die EU als Friedensgarant oder als Wertegemeinschaft zu schildern – gegründet auf gemeinsamen Erinnerungen an Holocaust und Befreiung – finden wenig Resonanz. Für die Nationen aber sind politische Mythen auch im 21. Jahrhundert zentrale Identitätsgrundlagen. Die darin verdichtete Erinnerung mobilisiert Selbstbewusstsein und Zuversicht. Diese kann sowohl dem Zusammenhalt der Gesellschaft als auch der Integration von Zuwanderern dienen, weil sie wichtige Bestandteile nationaler Identität vermittelt. Sie kann auch gegen zersetzende mythische Konstruktionen politischer Extremisten von links und rechts wappnen. Sind Mythen für den gesellschaftlichen Konsens unverzichtbar?
Foto:
Die Heldenfigur des Hermanndenkmals können heute Touristen als Gartenzwerg "Zwermann" erwerben (c) Zeitgeschichtliches Forum Leipzig / Punctum / Bertram Kober
Info:
Eröffnung: 14.6.2016, 19.00 Uhr, mit dem Schriftsteller Thomas Brussig
Ausstellung: „Deutsche Mythen seit 1945“, 15.6.2016 – 15.1.2017
Öffnungszeiten: Di–Fr, 9–18 Uhr, Sa/So 10–18 Uhr, Eintritt frei
Begleitbuch: Der reich bebilderte Band mit Beiträgen namhafter Experten und
anschaulichen Objektgeschichten ist für 19,90 Euro im Museum, im Buchhandel
sowie über https://shop.hdg.de erhältlich