Ein Nachruf auf Hermann Kant (14. 6. 1926 – 14. 8. 2016)

Alexander Martin Pfleger

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Was bereits so gut wie erreicht scheinen wollte, aber zum Glück noch einen Aufschub von gut fünf Jahren erfuhr, ist nun geschehen: Der Schriftsteller Hermann Kant ist am Sonntag, dem 14. August 2016, im Alter von 90 Jahren und genau zwei Monaten verstorben.


Ein reizvolles Gedankenspiel: Sich Hermann Kant beim Sichten der Meldungen über seinen Tod damit befaßt vorzustellen, eine leicht ins Experimentelle hinüberspielende Literatursatire des Titels „Au. – Au.“ zu schreiben, eine typisch Kantsche Humoreske, welche Ordnung in das Chaos zu bringen trachtet, ob denn nun „Die Aula“ oder „Der Aufenthalt“ sein erfolgreichster oder bedeutendster Roman gewesen sei. Zumindest der Erfolg ließe sich in Zahlen ausdrücken – alles Weitere bedürfte argumentativer Unterstützung.

Im Herbst des Jahres 1994 veröffentlichte das Satiremagazin „Titanic“ einen Fotoroman: Die Deutsche Bischofskonferenz versucht, ihrem Bedeutungsverlust im öffentlichen Diskurs mit der Verhängung eines Todesurteils gegen einen Schriftsteller/eine Schriftstellerin oder einen Intellektuellen/eine Intellektuelle wegen Gottlosigkeit, in Anlehnung an die Fatwa des Mullah-Regimes gegen Salman Rushdie, entgegenzutreten. Man sollte sich sogar dafür bewerben können. Gezeigt werden die Reaktionen der Aspiranten – den Reigen eröffnet Hermann Kant („Ein Todesurteil bringt Ruhm.“), gefolgt von Günter Grass, der sich mehr an Fragen der Auflage, und Wolf Biermann, der sich mehr an den sexuellen Konsequenzen der Angelegenheit interessiert zeigte. Am Ende traf es dann bekanntlich Luise Rinser – eingedenk ihres Briefwechsels mit Karl Rahner.

Womöglich verrät diese satirische Miniatur mehr über das Bild, das man sich in Westdeutschland von Hermann Kant machte, als man gemeinhin ahnen könnte. Kant war durchaus vom Ruch des Anrüchigen umgeben – in erster Linie Funktionär, in zweiter Linie Schriftsteller, von dem überdies nur die wenigsten etwas gelesen hatten: Wer liest denn schon freiwillig DDR-Literatur?

Zugleich aber verband sich mit dieser Seite ein Heroismus, der in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit kaum anzutreffen war – und den man am allerwenigsten „drüben“ vermutet hätte.

Ernst Jünger, über den sich Hermann Kant nach dessen Tod zwar distanziert, aber gleichwohl respektvoll äußerte, womit er sich wohltuend von den hysterischen Ablehnungsorgien mancher seiner „westgotischen“ Kollegen abhob, schrieb im „Epigrammatischen Anhang“ zu „Blätter und Steine“ (1934): „Im Angesicht des Todes bestätigt sich der hohe Rang des Menschen in der sokratischen Ironie und in der cäsarischen Beredsamkeit, dann aber im Schweigen der Schildwache, die auf verlorenem Posten fällt.“

„Ironie“ und „Beredsamkeit“: Diesen Begriffen begegnet man immer wieder, wenn man sich der Rezeption der Werke Hermann Kants zuwendet – zugleich aber auch bezüglich seines Lebens beanspruchen sie Bedeutung für sich.

Ironie als Waffe des Unterlegenen oder zu unterliegen Drohenden, der ums Überleben kämpft, prägte sein Schreiben von den Anfängen bis zum Schluß; problematisch wird Ironie jedoch, sobald sie als Herrschaftsinstrument wahrgenommen wird. Dem „Scharfmaul“, wie sich Kant selbst nannte, war Ironie, auch verletzende, auch im persönlichen Umgang nicht fremd. Die vermeintliche oder tatsächliche Ironie des Repräsentanten eines Machtapparats, als den man Kant in seiner Funktion als Vorsitzender des Schriftstellerverbandes der DDR (1978 – 1990) sowie als Mitglied des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (1986 – 1989) zwangsläufig auch wahrnehmen mußte, konnte indes auch Unangenehmeres nach sich ziehen als zeitweilige Verstimmungen im persönlichen Bereich – die Auseinandersetzung um die politische und moralische Bewertung der damaligen Geschehnisse hält bis heute an und beschäftigte nicht zuletzt Kant selbst bis zuletzt, wie seine Bemühungen um Klarheit im Falle seines Verhältnisses zu seinem früheren Lehrer Alfred Kantorowicz (1899 – 1979) noch kurz vor seinem Tod der literarisch und politisch interessierten Öffentlichkeit noch einmal dramatisch vor Augen führten.

Beredsamkeit als Ausweis literarischer Virtuosität war schon bald ein Markenzeichen des Autors Kant – ein einzigartiges Formulierungstalent wurde ihm bescheinigt, dessen Wortwitz und Spottlust den meisten seiner Texte eine eigentümliche Beschwingtheit und Leichtigkeit verlieh, die man indes auch, vor allem in späteren Jahren, negativ bewerten mochte: Von leerer Übervirtuosität und Schönfärberei war dann nicht selten die Rede; von einer Flucht ins Wortspiel und in harmlose Witzelei, wo die Wirklichkeit einen härteren Zugriff erforderlich gemacht hätte.

In der 16. Sendung des „literarischen Quartetts“, vom 10. 10. 1991, kulminierten diese Vorwürfe gegen Kant im Zusammenhang mit seinem „Abspann“ betitelten Erinnerungsbuch in der von Sigrid Löffler geäußerten Charakteristik des Verfassers: Kant, den man in erster Linie als Literaturfunktionär und SED-Funktionär und dann erst mit großem Abstand auch als Schriftsteller würdigen müsse, sei geradezu „gepanzert in Frohsinn“; nichts käme an ihn heran, nichts irritiere ihn, den Unverwundbaren, in seiner strahlenden Selbstsicherheit und seinem auftrumpfenden Selbstgefühl.

Daß die Kritikerin womöglich weniger eine persönliche Attitüde des Menschen Kant entlarvt haben, sondern dem Autor Kant literarisch auf den Leim gegangen sein könnte, war ihr in diesem Moment anscheinend nicht bewußt – einige Wochen später sollte sie zumindest ihre Einschätzung der Kant betreffenden Reihenfolge offenbar stillschweigend revidiert haben.

Sekundiert wurde sie im „Quartett“ durch Hellmuth Karaseck, der von Kants kleinem Ego sprach, aufgrund dessen er es nötig habe, sich bei jeder Gelegenheit wie ein Pfau zu spreizen, und Peter von Matt, dem der „Abspann“ literarisch als ins Putzmuntere gesteigerter sozialistischer Realismus und inhaltlich als einziger Wutschrei darüber erschien, daß es die DDR nicht mehr gebe, sowie als Dokument der Rachsucht Kants gegenüber allen, die nicht mit ihm übereinstimmten oder sich heute von ihm abgewandt hätten.

Marcel Reich-Ranicki fungierte als Kants Pflichtverteidiger – unter Rückgriff auf sein altbewährtes, von Oscar Wilde vorgegebenes Plädoyer, dass jemand, der seine Wechsel nicht bezahle, dennoch gut Violine spielen könne; weshalb folglich auch Kant zugebilligt werden müsse, daß er zwar ein Hallodri, vielleicht auch ein Halunke, gleichwohl aber auch ein talentierter Schriftsteller sei, der auf jeden Fall mit dem „Aufenthalt“ ein sehr bedeutendes Werk geschaffen habe.

Kant selbst wies in einem erstmals am 19. 11. 1997 im ORB gesendeten Gespräch mit Günter Gaus auf die banale Tatsache hin, daß seine „entsetzliche Beredsamkeit“, wie er sie selbst einmal genannt hatte, sein „Formulierium tremens“, selbstverständlich auch eine Art Schutz sei – freilich, wie jeder Schutz, letzlich immer nur ein brüchiger. Hier wird aber in der Tat ein Bereich tangiert, da sich die empirische Person und die Autorenpersönlichkeit berühren, wenn nicht gar überschneiden.

Die schweigende Schildwache schließlich, die auf verlorenem Posten fällt: Walter Benjamin rügte noch im Mai 1940 in einem Brief an Theodor W. Adorno, dieser habe in einem zur „Rettung“ Stefan Georges gedachten und in diesem Sinne begrüßenswerten Essay die für dessen Dichten und Denken zentrale Kategorie der Haltung als bloße „Schau“ denunziert – Haltung indes träfe man immer da an, „wo die essentielle Einsamkeit eines Menschen in unser Blickfeld rückt“.

Und von Haltung, nicht bloß von grandseigneurhafter Attitüde, muß man in der Tat sprechen, wenn man sich das Beispiel so unterschiedlicher literarischer Repräsentanten der untergegangenen DDR wie Peter Hacks oder Stephan Hermlin, Heiner Müller oder eben Hermann Kant vergegenwärtigt – weder ein für westliche Verhältnisse durchaus unübliches Festhalten an Mustern klassischer Formgebung (Hacks, Hermlin), noch ein bisweilen bewußt provokativ-elitär anmuten mögender gedanklicher Habitus (Müller) oder die dezente Artikulation kritischer Vorbehalte wider ungebügelte Hemden und Hosen (Kant) war bloße Pose.

Die öffentliche Person Kant auf der einen Seite also: Der Repräsentant eines Unrechtsstaats, der als „Hanns Johst“ (wie er in einem Brief an Erich Honecker im Sommer 1989 schrieb) oder, wesentlich schmeichelhafter, als „Gustaf Gründgens der DDR“ (wiederum im Gespräch mit Günter Gaus) wahrgenommen wurde – „der beste Mephisto, den es je gab.“

Das Werk hinwiederum: „Die Aula“, das hoffnungsvoll gestimmte Epos des jungen Arbeiter- und Bauernstaates, worin man aber rückblickend bereits dessen innere Widersprüche künstlerisch gestaltet sehen zu können vermeinte, die seinen Untergang unausweichlich erscheinen ließen; „Das Impressum“, die gewitzt-witzelnde Aufsteiger- und Ministerwerdungsverweigerungsstory, die zu einer veritablen Krise zwischen dem vermeintlichen SED-Vorzeigeschriftsteller und seiner Parteiführung führte; schließlich der autobiographisch grundierte „Aufenthalt“, Kants (bis dato) persönlichstes und, laut Fritz J. Raddatz und Marcel Reich-Ranicki in seltener Einmütigkeit, bestes Buch – alles in allem genommen vielleicht weniger sozialistischer Realismus als vielmehr allgemein realistischen Traditionen verpflichtete Erzählkunst mit modernistischen Einsprengseln und der Kantschen Ironie und Beredsamkeit, die die nötigen Anführungszeichen mitlieferten, wo es allzu bieder herzugehen drohe; also letztlich unlesbares und unsagbar langweiliges Zeug? Gerade auch in der Kurzprosa, die Kant als östlichen Formverwandten eines Heinrich Böll oder Siegfried Lenz auswies, paradoxerweise, trotz aller Kantschen „Kringel“, weniger „schnurrig“, wesentlich „straighter“, und überdies stilistisch deutlich markanter, aber insgesamt eben doch nur harmloses „artistisches Bodenturnen“?

Es wollte vielfach so scheinen – doch verbreitete sich über die „happy few“, die diese frühen Texte tatsächlich gelesen hatten, die Fama literarischer Werke von höchst eigentümlicher, absoluter Magie, die nicht durch politische oder ästhetische Doktrinen bedingt sein konnte: Ein aufgeklärter Mythos – ein Triumph der künstlerischen Autonomie über alles Ideologische, der Hermann Kants ältere Bücher den Untergang der DDR überleben ließ und erklärt, warum ihm nicht nur viele alte Leser die Treue hielten, sondern er auch viele neue Leser finden konnte!

Den westdeutschen Berufsoppositionellen mußte Kant suspekt bleiben. Natürlich sah man sich gerne in Solidarität mit den Kollegen östlich des eisernen Vorhangs – den vermeintlichen Vorkämpfern eines anderen, besseren Deutschlands auf sozialistischer Grundlage und ohne die Altlasten der Bonner Republik. Aber – wenn es sich nicht um ausgewiesene Dissidenten handelte, begann es problematisch zu werden. Was sollte man von Autoren halten, zu deren Selbstverständnis es keineswegs gehörte, sich als „dagegen“ zu begreifen, sondern die sich, bei aller Differenz im Detail, positiv zu ihrem Staat verhielten, aufbauend und in der Hoffnung auf Mitwirkung?

Nach der Wende stilisierte sich Hermann Kant nicht zum Widerstandskämpfer in der Führungsriege, sondern spielte seine Rolle als literarischer Repräsentant des Unrechtsstaats – mit „Haltung“ zuende. Seine nüchterne, rational selbstanalytische Haltung ist sehr schön in Irmtraud Gutschkes Gesprächsband „Hermann Kant. Die Sache und die Sachen“ von 2007 dokumentiert – einem Werk, von dem man hoffen darf, es möge dereinst Heiner Müllers „Krieg ohne Schlacht“ als zumindest gleichwertig zur Seite gestellt werden. Kant zeigt sich hier als Besiegter – ohne Larmoyanz, ohne Resignation, ohne Trotz oder gar Verbitterung, sondern erneut als Realist, der die Dinge so nimmt, wie sie sind, und daraus seine Konsequenzen zieht, ohne sich freilich durch deren bloße Faktizität einschüchtern und zu vermeintlich „alternativlosen“ Normen bekehren zu lassen. Immerhin verstand er sich, auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bezogen, mehr als Verfassungsfreund denn als Verfassungsfeind – verbunden mit der Hoffnung, daß sich noch vieles verbessern lassen würde.

Von ihm gab es im Herbst 1989 keine Aufrufe, dazubleiben und nicht der Verlockung von westlichem Tinnef zu folgen. Auch sucht man bei ihm zum Glück vergeblich nach den für manchen nobelpreisverwöhnten Kollegen leider so typischen Klagen über politisch motivierte Kampagnen, wenn eines seiner neueren Produkte bei Lesern und Kritik auf keine uneingeschränkte Zustimmung stieß – die, gelinde gesagt, zurückhaltende Aufnahme seiner ersten beiden Nach-Wende-Romane „Kormoran“ und „Escape. Ein WORD-Spiel“ quittierte er mit der Bemerkung, da er zur Zeit von deren Abfassung vorwiegend mit juristischen Auseinandersetzungen um die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, als „IM Martin“ für die Stasi gearbeitet zu haben, befaßt war, litten sie unter einer gewissen „Unbalanciertheit“ und wären „nicht so wahnsinnig toll“ geworden; hierin wird ihm aber nicht nur so mancher Leser, sondern vielleicht auch die Literaturgeschichte widersprechen.

Kants Biographin Linde Salber schrieb, in seinen Texten fänden sich, bei aller Doppelbödigkeit, die Literatur von Rang ohnehin aufweist, „keine Extrakammern für die großen Phänomene erhabenen Tief- oder Hintersinns“; die Suche „nach ‚Hinterwelten‘ im Sinne metaphysischer Konstruktionen“ führe bei ihm zu nichts – vielmehr charakterisiere sein Werk „eine Rückbindung des vermeintlich Erhabenen und Hochphilosophischen an banal gelebtes Denken".

Womöglich ist hiermit aber doch eine Konstante im Gesamtwerk Kants angesprochen, die man vielleicht nicht unbedingt als metaphysisch, vielleicht jedoch als poetologisch bezeichnen könnte – das Ringen um Ordnung im weitesten Sinne!

„Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit./ Leicht beieinander wohnen die Gedanken,/ Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen;/ Wo eines Platz nimmt, muß das andre rücken,/ Wer nicht vertrieben sein will, muß vertreiben;/ Da herrscht der Streit, und nur die Stärke siegt.“ – so läßt Friedrich Schiller seinen Wallenstein zu Max Piccolomini in der zweiten Szene des zweiten Aufzugs von „Wallensteins Tod“ sagen. Ließe sich dies nicht auch als Motto über Kants Gesamtwerk setzen – als Charakteristik der Grundproblematik, die sein Leben und sein Schreiben bedingte: Die Schwierigkeit, sich bei der Verwirklichung marxistischer Ideale nicht nur, wie bei der Bemühung um die Durchsetzung jedweden Gedankens, an der harten und banalen Wirklichkeit nicht zu stoßen, sondern zudem in diesem Kampf nicht seine Unschuld zu verlieren und ungewollt und unbewußt zum Vollstrecker des ungeistigsten Rechts des Stärkeren zu werden und die lautere Grundmotivation vergessen zu machen?

Eines Nachts holte ein Team von Sanitätern Hermann Kant aus seiner Datsche in Prälank-Dorf und verfrachtete ihn für sieben Wochen in eine nahegelegene Klinik – am vorangegangenen Abend hatte seine Biographin Linde Salber mit ihm telephoniert und dabei den Eindruck gewonnen, daß mit seinen künstlichen Herzklappen etwas nicht stimme, was sie dazu bewog, einen mit Kant schon lange befreundeten Arzt zu alarmieren, der die Rettungsaktion umgehend anleierte.

Die nächtliche Ruhestörung, die ihm, der „schon so schön“ hätte „tot sein können“, das Leben rettete, und der folgende siebenwöchige Klinikaufenthalt, seine „Gesundungshaft“, sind Gegenstand seiner Kurzgeschichte „Ein strenges Spiel“, mit der er, der Ordnungsliebende, der es gerne gesehen hätte, wenn die respektvoll erschütterte Nachwelt erst nach seiner Beisetzung von seinem Ableben erfahren hätte, sein literarisches Werk als beendet und abgeschlossen verstanden wissen wollte – ein höchst merkwürdiges, eigentümliches Stück Literatur, ein gleichermaßen elegantes wie intelligentes und dabei kanttypisch verspieltes Schlußzeichen unter ein phänomenales Lebenswerk.

Der oder das ganze Ereignisknäuel wirkt wie ein „Zauberberg“ en miniature – Kant selbst verweist auf die entsprechenden Analogien und Differenzen: Sieben Jahre – sieben Wochen; Hofrat Behrens – und ein „gewöhnlicher“ Chefarzt, der dann zum Ende hin doch noch zum Hofrat wird. Man ist als Leser geneigt, über Thomas Mann hinaus noch weitere Anklänge wahrzunehmen – Franz Kafka, Thomas Bernhard, Wolfgang Hildesheimer. Bloße, rein subjektive Assoziationen? Kant selbst assoziiert auch Verschiedenes – wie man es von ihm kennt: Erinnerungen an eine aktuelle Parksünde verbinden sich mit Eindrücken seiner Begegnung mit Gregory Peck im Kreml kurz nach Gorbatschows Amtsantritt; ferner erinnert er sich an seine Begegnung mit dem späteren RAF-Terroristen Jan-Carl Raspe, dem er damals eine Widmung in ein Exemplar seines ersten Erzählungsbandes „Ein bißchen Südsee“ (andernorts schreibt er, es habe sich um eines der „Aula“ gehandelt) geschrieben hatte. Auch werden Reminiszenzen an die Krankenhausserie „Emergency Room“ mit George Clooney angeführt.

„Um aus unordentlichem Geschehen eine Geschichte zu machen, muß man, auch wenn es nur ein Erlebnisbericht sein soll, ordentlich erzählen. Mit Beginn und Ende. Ob ich an einen properen Schluß komme“ – das weiß der Erzähler nicht. Doch gebannt folgt man den Kreuz- und Querzügen des kochkundigen und überhaupt in Haushaltsfragen überaus beschlagenen Ritters „Hermi“ mit den klappernden Herzklappen von A. nach Z., seinem auch auf kürzestem Raum mäandernden und dabei doch nie sein Ziel, wie lustig von ihm, Herr über sein Leben zu sein, aus den Augen verlierenden Erzählstrom, mit mehreren Auftakten und etlichen Querverläufen, der uns hier so nebenbei seine ganz persönliche Poetik mitteilt.

Erstmals erschien „Ein strenges Spiel“ in der Augustausgabe 2013 von Hermann Gremlizas „konkret“; später dann, im Jahre 2015, als bibliophiles Taschenbuch im Ochsenfurter Kulturmaschinen Verlag – sehr schön gestaltet von seinem Freund Lothar Reher und mit fünf Graphiken von Joachim John versehen, aber unter einem, im Vergleich zur Zeitschriftenversion, katastrophalen Lektorat leidend. Warum von Günter Grass, dem „Lübecker aus Danzig“, in der Buchausgabe nur noch als vom „Danziger“ die Rede ist, und weshalb Erwin Strittmatter, den wir in „konkret“ als „den armen Wundertäter Erwin“ vorgestellt bekamen, nun zum „armen Spremberger“ wurde, mag einer geheimnisvollen Autorintention geschuldet sein – nicht zu entschuldigen sind indes die vielen kleineren Nachlässigkeiten der Orthographie und der Interpunktion, die bei einem Text dieser Kürze und noch dazu in bibliophiler Aufmachung besonders unangenehm auffallen müssen. Immerhin scheint das Buch sehr erfolgreich zu sein – wir dürfen daher auf Korrekturen in späteren Auflagen hoffen.

Wir sind fast am Ende, und wir hätten noch so viel zu schreiben! Der Leser eines Nachrufs soll, einem Gebot Marcel Reich-Ranickis gemäß, nach der Lektüre wissen, was der Mensch geleistet habe und nicht, wo er zur Schule gegangen sei. Konnten wir dem Gebote Folge leisten?

Das Verfassen eines Nachrufs bietet dem Schreibenden ideale Möglichkeiten, Unterschiedlichstes und zum Teil wohl auch in höchstem Ausmaße Verstreutes zum Thema zusammenzutragen und zu präsentieren. Ein wichtiger Aspekt ließ sich in den Kontext des bisher Angeführten nicht mehr harmonisch integrieren – es sei uns, als Kantscher Kringel, an dieser Stelle nun doch noch gestattet, darauf hinzuweisen.

Hermann Kant und Stephan Hermlin verband nicht nur eine lebenslange Freundschaft, sondern offenbar auch eine tiefe Verbundenheit mit dem Werk von Ambrose Bierce (1842 – 1914). Hermlins Erzählung „Der Leutnant Yorck von Wartenburg“ rekurriert auf Bierces wohl bekannteste Geschichte, „An Occurence at Owl Creek Bridge“. Der Literaturwissenschaftler Linus Cord, Kants alter ego in „Kennung“, seinem 2010 erschienenen letzten Roman, schreibt einen Essay über diese Verbindung zwischen Bierce und Hermlin. Witzigerweise bezieht sich auch Cees Nooteboom in seiner Novelle „Die folgende Geschichte“, die ebenfalls im „literarischen Quartett“ vom 10. 10. 1991 besprochen wurde, auf den berühmtesten Text von Bierce – Peter von Matt verwies darauf, und Marcel Reich-Ranicki erinnerte an Hermlins Gestaltung des Stoffes.

Myron Kant wiederum, Hermann Kants jüngster Sohn, dem vielleicht die ergreifendste Stelle im „Abspann“ gewidmet ist, als der Vater die furchtbarsten Augenblicke seines Lebens schildert, die er angesichts des drohenden Todes dieses kleinen Menschen durchlitt – da ist nichts von gepanzertem Frohsinn und auftrumpfendem Selbstgefühl zu spüren; hier empfindet der mächtige Funktionär eine existentielle Irritation und läßt seine Leser daran teilhaben! – , verdankt seinen Vornamen einer anderen von Bierces klassischen Geschichten: „The Death of Halpin Frayser“.

Die Ideologien kommen und gehen – die bedeutenden Werke der Literatur bleiben bestehen: So auch die Werke von Hermann Kant; und nicht nur, wie er im Vorwort zu „Ein strenges Spiel“ hoffnungsvoll äußerte, in jeder gut sortierten Bibliothek, sondern mit Sicherheit auch in so mancher weniger gut sortierten. Vermag dies als properer Schluß zu bestehen?

 

Foto: Hermann Kant (c) wikipedia



Anmerkung der Redaktion:

Die Ausführungen zu Stefan George, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno basieren auf Thomas Karlaufs Rezension des Buches „„Eine Kugel im Leibe“. Walter Benjamin und Rudolf Borchardt. Judentum und deutsche Poesie.“ (Wallstein Verlag, Göttingen 2011) von Wolfgang Matz aus der FAZ vom 8. 8. 2011: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/wolfgang-matz-eine-kugel-im-leibe-fuer-das-dichteramt-war-kein-kandidat-mehr-tauglich-11115142.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

Hermann Kant: Kennung
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250 Seiten, EUR 19.95 (DE), EUR 20.60 (AT)
ISBN: 978-3-351-03301-9
EAN: 9783351033019

Hermann Kant:
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