Die Krise des deutschen Theaters aber bleibt dem Publikum erhalten
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die Zeichen an deutschen Theatern stehen auf Abschied und Willkommen, beides nicht immer freiwillig.
Im neuen Jahr verlässt Frank Castorf die Berliner Volksbühne und wird durch den Event- und Museumsfachmann Chris Dercon ersetzt. Auch Claus Peymann nimmt Abschied - vom Berliner Ensemble; sein Nachfolger wird Oliver Reese, dem am Frankfurter Schauspielhaus Anselm Weber folgt, der ein vorübergehend verwaistes Bochumer Schauspielhaus hinterlässt, bis dieses 2018 von Johan Simons übernommen wird, dem Leiter der Ruhrtriennale.
Jeder neue Intendant bringt Schauspieler aus seiner früheren Wirkungsstätte mit, was zu Vertragsbeendigungen und Entlassungen am neuen Domizil führt. Solche Verschiebebahnhöfe scheint sich nur noch das deutsche Theater erlauben zu dürfen. Man stelle sich vor, der neue Leiter eines renommierten Verlags würde dessen Autoren vertreiben und sie durch jene ersetzen, die ihm bislang an anderer Stelle zu Diensten waren.
Intendantenwechsel an deutschen Bühnen erwecken deswegen häufig den Eindruck, dass es sich um politische Umstürze handelt. Der neue Mann (hin und wieder auch die neue Frau) an der Spitze trennt sich von einem Großteil der Schauspieler bzw. verlängert deren Verträge nicht. Denn anscheinend bedürfen die künstlerischen Offenbarungen, die fortan ins Haus stehen, sowohl eines Paradigmen- als auch eines Personalwechsels. Dabei sind die Meriten, welche sich die allmächtigen Sachwalter des Sprechtheaters erworben haben, selbst im Vergleich zur Literaturbranche, die ähnlichen Akzeptanzproblemen beim Publikum ausgesetzt ist, ziemlich mickrig.
Der scheidende Frankfurter Intendant Oliver Reese, der als sehr erfolgreich gilt, vermochte bei wohlwollender Einschätzung allenfalls 20.000 Einzelpersonen an sein Theater zu binden. Damit die Bilanz dennoch positiv erscheint, wird lediglich die Anzahl der ausgegebenen Eintrittskarten veröffentlicht (ca. 190.000). Nach meiner Kenntnis ist das bei vielen Theatern so üblich. Denn vermutlich kämpfen alle gegen das gleiche Problem an: Lediglich eine Minderheit besucht regelmäßig die Vorstellungen.
Gerade deswegen wäre Bescheidenheit angesagt. Und zwar sowohl gegenüber den Schauspielern als auch gegenüber dem Publikum. Selbstverständlich benötigen die Spieler Flexibilität; sie müssen und wollen sich weiterentwickeln, was die Möglichkeit des Wechsels zu einem anderen Theater einschließt, aber ein solcher sollte nicht aufgezwungen sein. Die Zuschauer hingegen identifizieren sich häufig mit einem ihnen wohlvertrauten Ensemble; weil sie dessen Talente schätzen gelernt haben. Eine allzu große Fluktuation verhindert dieses Wir-Gefühl.
Verärgerungen rufen in aller Regel nicht die künstlerischen Qualitäten der Spieler, sondern die der Regisseure hervor. Zum einen, wenn sie mit den literarischen Vorlagen ihrer Inszenierungen nur mäßig vertraut scheinen, zum andern, wenn sie sich erkennbar selbst verwirklichen wollen, statt dem Stück neue und schlüssige Dimensionen zu eröffnen. Die Auswahl der Regisseure aber zählt zu den Kernaufgaben der Intendanten. Und an dem Gewicht dieser Aufgabe verheben sich viele.
Neben der blenderischen Faszination, die von manchen Regisseuren ausgeht, unterliegen Intendanten auch gern dem in Aussicht gestellten Sponsoring durch die Wirtschaft. Dieter Dorn, der langjährige Intendant der Münchener Kammerspiele, schreibt dazu in seinem Erinnerungsbuch „Spielt weiter! Mein Leben für das Theater“:
„1999 inszenierte ich «Tristan und Isolde» an der New Yorker Met, als die Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth eigens anreiste, um mir das Schauspielhaus anzubieten. Sie würde mir aus Kreisen der Wirtschaft zusätzlich ein paar Millionen für den Etat garantieren, was durchaus verführerischen Charakter hatte. Frankfurt, lockte die Erste Frau der Stadt, habe eine junge, aufstrebende Wirtschaft, große Banken, die Menschen brauchen ein gutes Theater, mit dem sie sich identifizieren können, und dafür würden sie auch Geld bereitstellen.
Ich sagte mir nur: Dorn, du darfst nicht darauf hereinfallen, denn eine ganz bestimmte Klientel aus lauter einzelnen Auftraggebern zu bedienen, konnte und wollte ich nicht leisten.“
Der Frankfurter Magistrat entschied sich dann für Elisabeth Schweeger (Intendantin von 2001 bis 2009); ihr folgte Oliver Reese nach. Er installierte ein durchaus anspruchsvolles Wohlgefälligkeitstheater, das die von seiner Vorgängerin leichtfertig heraufbeschworenen inhaltlichen Konflikte vermeidet, aber deswegen auch als relativ unpolitisch gilt. Ab der Spielzeit 2017/18 übernimmt er die Leitung des Brecht-Theaters „Berliner Ensemble“. Es bleibt abzuwarten, ob Brecht, Müller, Weiss und andere kritische Dramatiker demnächst in weichgespülten Fassungen am Schiffbauerdamm dargeboten werden oder ob dort künftig die rote Fahne weht.
Vor dem Hintergrund, dass einerseits immer noch zu wenige Menschen (die des verstehenden Lesens und Hörens mächtig sind) ins Theater gehen und dass sich andererseits die Theatermacher trotz der Krisen in ihrem Gewerbe geradezu feudale Strukturen erlauben, müssten eigentlich sämtliche Fragen neu gestellt und zukunftsweisend beantwortet werden. Eine dieser möglichen Antworten könnte sein, dass das Ensemble selbst zur tragenden Kraft eines Theaters würde und über Intendanten und Regisseure selbst bestimmte.
Foto: Das ehemalige Brechttheater, das Berliner Ensemble (BE) in Berlin (c)
Info:
Die erwähnte Autobiografie von Dieter Dorn:
Dieter Dorn: Spielt weiter! Mein Leben für das Theater
München 2013, Verlag C. H. Beck
ISBN 978 3 406 64500 6