Oliver Reese inszeniert Tracy Letts „August: Osage County“

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Bühnenstücke wie dieses werfen vor allem eine Frage auf: Was soll das Theater wie zur Sprache bringen?



Oliver Reese, Intendant und Regisseur, der auf gepackten Koffern nach Berlin sitzt, scheint sich diese Frage nicht gestellt zu haben. Eher eine ganz andere: Wie verschafft man sowohl Schauspielern, mit denen man bereits einen langen Weg gemeinsam gegangen ist und teilweise an anderem Ort weitergehen wird, als auch dem Frankfurter Theaterpublikum eine nachhaltige Erinnerung an die eigene Ära?

Die Antwort könnte lauten: Man inszeniert mit Hilfe guter und sehr guter Schauspieler Monologe und Dialoge und bedient sich dafür einer Folie mit Erfolgsgarantie. Nämlich eines dem Zeitgeist verhafteten amerikanischen Boulevardstücks. Eines, das etwas tiefsinnig ist, aber bewusst an der Oberfläche bleibt, und das komödiantisch ist, aber auch hinreichend ernste Sequenzen enthält. Und das man notfalls aufblähen kann, um einen langen Abend füllen zu können.

Ein solches Stück ist Tracy Letts „August: Osage County“. Am Beispiel einer Familie beschreibt es die ungelösten Probleme einschließlich sämtlicher Verlogenheiten der amerikanischen Gesellschaft und weist dennoch keinen Weg aus der Misere heraus. Stattdessen werden Umleitungen, man kann auch Fluchten sagen, ausgeschildert. Die Protagonisten greifen in geradezu inflationärer Weise nach diesen Strohhalmen. Dabei geben sie so viel von den Untiefen ihrer jeweiligen Persönlichkeit preis, dass Psychologen und Psychoanalytiker damit ein Lehrbuch über menschliche Destruktivität illustrieren könnten.

Es geht um einen Generationenkonflikt, der an einer Mutter und ihren drei Töchtern vermeintlich exemplarisch aufgezeigt wird. Diese Mutter, Violet, schwerkrank und tablettensüchtig, wird von ihrem überforderten und dem Alkohol verfallenen Ehemann aufgegeben. Bevor er verschwindet, engagiert er eine Pflegerin, die wegen ihrer Abstammung von Amerikas Ureinwohnern „Indianerin“ genannt wird. Violet alarmiert ihre beiden entfernt wohnenden Töchter Barbara und Karen, die mit ihren Partnern sowie der einzigen Enkelin anreisen. Die dritte Tochter, Ivy, sowie Violets Schwester, Mattie Fae, wohnen in der Nähe und treffen als erste im Haus der Eltern ein. Nach fünf Tagen wird der Vater ertrunken aufgefunden; ob es sich um Selbstmord handelte oder um ein Unglück, bleibt offen. Beim Beerdigungsessen, das alle Familienmitglieder an einen Tisch zwingt, eskaliert der seit langem schwelende Konflikt. Stück für Stück werden wohlgehütete Geheimnisse gelüftet. Dabei führt Violet Regie, indem sie sämtliche Instrumente der menschlichen Manipulation anwendet. So wird diese Familie, stellvertretend für alle anderen Familien, demaskiert als Grund fast allen Übels.

In den USA kann eine solche Rezeptur auf großen Beifall hoffen und der Erfolg stellte sich auch kommerziell ein. Lett erhielt für die Bühnenversion den Pulitzer-Preis. Ebenso erwies sich die Verfilmung als Kassenschlager. Die renommierte Filmzeitschrift epd Film kritisierte nach dem Anlaufen der deutschen Fassung im Jahr 2014, dass dem als Demontage einer amerikanischen Mittelstandsfamilie angelegten Film der Mut fehle, bei den Konflikten wirklich an Schmerzgrenzen zu gehen. Trotz der tollen Besetzung (u.a. Meryl Streep und Julia Roberts) sei der Film inhaltlich inkonsequent.

Dieser eher verhaltene Beifall mit seinen kritischen Untertönen hätte Oliver Reese warnen und ihn dazu ermuntern sollen, analog zu seiner genialen Umsetzung von Thomas Bernhards autobiografischen Erinnerungen („Wille zur Wahrheit“) die einzelnen Standpunkte und Offenbarungen der handelnden Personen in lediglich locker verbundenen Szenen aufeinander folgen zu lassen. Die grandiosen Schauspieler, über die er verfügt, wären dazu in der Lage gewesen. Eine solche Inszenierung hätte die notwendigsten Fragen stellen und alle denkbaren Antworten zumindest in Umrissen skizzieren können. Einer derartigen Analyse amerikanischen und deutschen Spießbürgertums, auf 90 Minuten komprimiert, wäre eine große Nachhaltigkeit beschieden gewesen.

Hätte, hätte - doch es wurden 210 lange Minuten inklusive Pause. Viele der durchaus guten und originellen Gags einschließlich der bekanntesten gesellschaftlichen Vorurteile versandeten in mühsam kaschierten Wiederholungen und bewirkten das Gegenteil der eigentlich erhofften Wirkung. Lösungsansätze zur Überwindung desolater Familienstrukturen (und gesellschaftlicher Modelle) waren nicht erkennbar, sollten es wohl auch nicht. Denn Tracy Lett und mit ihm Oliver Reese plädieren für Achselzucken statt für Revolution.
Weniger wäre mehr gewesen; das gilt insbesondere für die Videoeinblendungen und die (ihr Metier beherrschenden) Musiker auf der Bühne. Corinna Kirchhoff und Constanze Becker, die im Zentrum dieser Inszenierung stehen und genau wie die anderen Darsteller schauspielerisch überzeugen konnten, hätten ein überzeugenderes Abschiedsstück verdient. Für künftige Stücke zu ähnlichen Themen könnte sich diese Inszenierung gar als unheilvoll erweisen, weil sie aus falschem Verständnis heraus Anlass zur Nachahmung bieten könnte.

 

Foto: Schauspiel Frankfurt (c) Birgit Hupfeld


Info:

Eine Familie
von Tracy Letts, deutsch von Anna Opel
Regie: Oliver Reese, Bühne: Hansjörg Hartung, Kostüme: Elina Schnizler, Musik und Songs: Jörg Gollasch, Video: Meika Dresenkamp, Dramaturgie: Michael Billenkamp.

Darsteller: Wolfgang Michael, Corinna Kirchhoff, Constanze Becker, Carina Zichner, Verena Bukal, Franziska Junge, Josefin Platt, Martin Rentzsch, Sascha Nathan, Katrin Hauptmann, Till Weinheimer, Isaak Dentler.
Live-Musiker: Peer Neumann (Piano), Timo-Erik Neumann (Drums), Tim Roth (Bass), Radek Stawarz (Geige), Tomek Witiak (Gitarre)

Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause