Persönliche Überlegungen zum Tod von Joachim Kaiser (18. 12. 1928 – 11. 5. 2017)

Alexander Martin Pfleger

So vermessen, sich selbst glücklich zu heißen, war er nie – eingedenk des Schicksals des Polykrates oder des Geisterhauches, der dem Wanderer Schuberts (bzw. Schmidts von Lübeck) tönte: "Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück."

Aber auch als unglücklich durfte er sich gewiß nur in jenen dunklen Stunden empfunden haben, die dem Kriegsende vorausgegangen waren. Wir aber, wenn wir den Glücklichen ihn nennen, vermögen selbst Selige zu sein: Der ewig-junge Joachim Kaiser ist im Alter von 88 Jahren verstorben.

Begegnung in Bayreuth

Wenn er es denn war, dann wirkte auch er im wirklichen Leben viel kleiner als auf dem Fernsehschirm: Ein geschmeidiges Männlein, fast koboldhaft, dem ich an einem Julinachmittag vor 16 Jahren auf der Terrasse des Bayreuther Festspielhauses gegenüberstand. Ist das vielleicht der vielbeschworene „jungenhafte Charme“? Ab welchem Alter darf man diese Formulierung guten Gewissens verwenden, ohne Gefahr zu laufen, unfreiwillig komisch zu wirken? Kurz nur kreuzten sich unsere Blicke – er schien mich zu kennen, was gewiß nicht zutraf, und schien mir leicht amüsiert eine kaum merkliche Erschrockenheit vorzuspielen, als hätte ich ihn bei etwas ertappt. Aber wobei nur? Da ich mir nicht sicher war, ob er es war, und mir erst im Nachhinein so manche Überlegungen kamen – wie gerne wäre ich ihm einmal gegenübergetreten, um ihn damit zu beeindrucken, daß ich die Herkunft jenes einen Motivs im Finalsatze von Beethovens Klaviersonate Nr. 29, der Großen Sonate für das Hammerklavier op. 106 in B-Dur ermittelt hätte, das ihm ein Zitat dünkte (ich habe es keineswegs – meine Mutmaßungen in Richtung auf Händels „See the conquering hero comes“ ließen sich noch nicht verifizieren!) –, schieden wir wortlos voneinander. Ein holder, nachmittäglicher Spuk? Ein Holunderbuschwachtraum – auch wenn weit und breit kein Holunderderbusch zugegen war; vermutlich? Wir zwei Vorübergehenden sahen einander nicht wieder, fanden uns aber geeint mit den anderen Festspielgästen im „Lohengrin“.

Erste Erscheinungen

Sein Name begann für mich irgendwann ab dem Frühjahr 1990 hier und da aufzuflackern – erstmals in August Everdings und Marcel Reich-Ranickis Disput vom „Sinn und Unsinn der Kritik“. Als ich ihn dann erstmals bewußt wahrnahm, anläßlich seines TV-Nachrufs auf Leonard Bernstein, schien er mir bereits bekannt zu sein – offenbar aus einer Sendung über Leben und Werk Ingeborg Bachmanns, durch die er geführt und die ich im Sommer 1989 gesehen hatte.

Zugeschriebene Gegnerschaft

Für viele schien er die ideale Gegenfigur zum polternden, bisweilen brachial auftretenden Reich-Ranicki zu sein: Die geborene Feinsinnigkeit (was letztlich ein Schimpfwort ist!), abwägend, differenzierend (als ob dies nicht auch zu einem vernichtenden Urteil führen dürfe!), durch eine zarte Sprachmelodie noch gekrönt. Als ihm als Erstem 1993 der gerade erst gestiftete Ludwig-Börne-Preis zugesprochen wurde, ereiferten sich so manche: Er habe ihn wahrlich verdient, er sei der wahre Kritiker aus dem Geiste Börnes, im Gegensatz zum „Verreißer“ – dem man witzigerweise und, wie man sagen muß, wie zu erwarten war, 1995 dieselbe Auszeichnung verlieh. Dabei war bekannt, daß beide seit Jahrzehnten eine innige Freundschaft verband – Reich-Ranicki besorgte Kaiser Mitte der 1950er Jahre eine gerade in Warschau neu erschienene Chopin-Ausgabe, die im Westen nicht zu bekommen war, und Kaiser ebnete dem Freund zum Dank den Weg nach Bayreuth.

Genie der Freundschaft

Der abgedroschene Begriff drängt sich hier geradezu auf. Wenn man ihn in TV- und Radio-Diskussionen erlebte, stellte sich unweigerlich der Eindruck ein, als sei er mit den meisten seiner Gesprächspartner eng befreundet – keine falsche Anbiederung, auch keine erzwungene Distanziertheit, sondern ein Talent, allen auf Augenhöhe zu begegnen und alle, bei Bedarf, auf die eigene Augenhöhe zu heben. Und offensichtlich war er mit allen befreundet und konnte, ohne im Konfliktfall situationsfremd beschwichtigend zu wirken, gleichwohl als Vermittler tätig werden, als ausgleichendes Gegengewicht an sich, trotz oder gerade wegen der eigenen „Temperamentfülle“: Der gute Professor Silberfuchs (besser „Silbenfuchs“, wie ihn Hans Lach nannte) aus dem „Tod eines Kritikers“!

Der lange, dunkle Tunnel

Auf die Frage, warum Wilhelm Furtwängler als größter Dirigent aller Zeiten gelte, benannte er einst die Bedeutung, die dessen Aufführungen und Aufnahmen für ihn und andere schon früh gewannen: „Während des Krieges, als man nicht wußte, ob man die Nacht überleben wird, als man nicht wußte, ob der nächste Tag für einen kommen wird, da steckte natürlich in jedem Konzert eine solche Entscheidung und ein solches Maß an seelischem Gewicht – das war später nicht mehr zu haben.“

Seine Kindheit und Jugend verlebte Joachim Kaiser weitgehend unbeeinflußt von den Zwängen des NS-Regimes, doch empfand er die Entwicklungen um sich herum, gewiß ohne jemals selbst verfolgt worden zu sein, als immer bedrückender. In einem BR-Interview aus den 1990er Jahren griff er auf den manchen ebenfalls abgedroschen dünkenden Begriff vom langen, dunklen Tunnel zurück, an dessen Ende ja denn doch etwas sein müsse.

An einem Karfreitag zu Kriegsbeginn weilte der junge Kaiser bei seinem Onkel, der an einer Studie über religiöse Dichtungen des Judentums schrieb. Die ganze Wohnung war voll wertvoller Dokumente aus den Beständen der British Library oder des Britischen Museums, die man dem nahen Verwandten trotz der kriegerischen Auseinandersetzungen per Fernleihe zugänglich gemacht hatte. Neffe und Oheim „zappten“ zwischen Bachs „Matthäus-Passion“ und Wagners „Parsifal“ auf zwei Radiokanälen hin und her, ohne auf diese Weise auch nur eines der beiden Meisterwerke vollends erfassen zu können – aber die essentielle Erfahrung einer Geistigkeit, die dem Ungeist des tagtäglichen Treibens im Deutschland Adolf Hitlers die Stirn bot, mußte sich ihm auf diesem Wege schon offenbart haben.

Nach Kriegsende, bis hin zur Währungsreform, sollte sich bei ihm ein Gefühl ungeheuerer Befreiung und Erleichterung einstellen, äußerlich manifestiert durch Theater- und Konzerterlebnisse in einer solchen Dichte und Fülle, wie sie sich ihm nicht wieder darbieten sollten.

Sehr früh war ihm auch noch der Durchbruch vergönnt: Nachdem ihm Walter Maria Guggenheimer 1951 die Gelegenheit gegeben hatte, in den „Frankfurter Heften“ unter dem Titel „Musik und Katastrophe“ über Adornos „Philosophie der Neuen Musik“ zu schreiben, war er etabliert, gehörte er dazu, hatte er im Grunde genommen keine Schwierigkeiten mehr.

Er scheute sich später nicht, positiv Bezug auf Helmut Kohls (ursprünglich wohl von Günter Gaus stammende) Formulierung von der „Gnade der späten Geburt“ zu nehmen – er und andere gehörten wahrlich einer Generation an, die durch einen glücklichen Zufall alt genug war, das Dritte Reich noch bei vollem Bewußtsein wahrgenommen, und gleichwohl zu jung, um individuelle Schuld auf sich geladen zu haben. So war man zu Beginn der 1950er Jahre, Mitte bis Ende Zwanzig, herrlich frei und unbelastet; war nicht, wie die Vertreter der Vorgängergeneration, „verstrickt“ und mußte sich nicht etwa für einen Aufsatz schämen, der sich zwar faschistisch läse, der aber in Wirklichkeit dezidiert antifaschistischen Zuschnitts sei (quod erat demonstrandum!) – oder ähnliches!

Man war frei zum Gestalten und Sich-Entfalten – und gibt es ein höheres Glück, als selbstbestimmt sich entwickeln zu dürfen, ungemein viel zu rezipieren und zu produzieren, und dies alles vor den Augen einer staunend anteilnehmenden und überwiegend durchaus wohlwollenden Öffentlichkeit?

„Willst Du ins Unendliche schreiten…“

Man warf ihm vor, sich musikalisch insgesamt auf sicherem Terrain bewegt und einen bestimmten Rahmen, der von Bach und Händel über die Musik der Klassik und Romantik bis zur klassischen Moderne mit Schönberg und Strawinsky als letzten Ausläufern reichte, nicht verlassen zu haben. Doch dies trifft nur an der äußersten Oberfläche der Eckdaten zu: Nie war er der Experte, der sein Programm herunterspulte – stets wußte er das Unerhörte im scheinbar Bekannten hörbar zu machen. Ästhetische und intellektuelle Neugierde bedarf nicht unbedingt neuer Gegenstände, um sich zu beweisen. Wer wäre so vermessen, das Alte als bekannt vorauszusetzen und sich nun dem Neuen zuzuwenden? Er wäre nie der Ansicht gewesen, den Geheimnissen des zweiten Satzes von Beethovens Klaviersonate Nr. 32, op. 111 in c-moll, auch nur hinlänglich gerecht geworden zu sein.

Auf literarischem Gebiet hingegen zeigte er sich auch stets den aktuellen Herausforderungen nicht nur gewachsen, sondern war überdies letztlich an allen wichtigen Debatten mitbeteiligt. Seitdem er auf Guggenheimers Empfehlung hin 1953 die Tagung der Gruppe 47 in Mainz besucht hatte, wiewohl oder gerade weil er „da gar nicht“ hinpasse, da er „zu ästhetisch“ sei, wandte er, der als Jugendlicher in Hitlerdeutschland den „Zauberberg“ gelesen hatte, sich nun auch Böll und Grass zu, deren Besonderheiten er erkannte und würdigte.

„…geh nur im Endlichen nach allen Seiten!“

Einst offenbarte er sein, wenn man so will, „kritisches Credo“ – daß es eine „schnöde und unergiebige Haltung sei“, seinen Gegenstand nicht ernst zu nehmen, sondern ihn lediglich durchschauen zu wollen. Das ist an die Adresse aller gerichtet, die Literatur und Musik lediglich als Objekte ansehen, anhand derer sich die eigene methodische Virtuosität entfalten ließe oder die sie auf eine bloß politische oder soziologische Lesart reduzieren wollen – sein Lehrer Adorno griff in ähnlichem Zusammenhang die Formulierung Hegels von einer schlechten Philosophie auf, die nur deshalb über den Dingen sei, weil sie nicht in den Dingen sei.

Der „Gegenstand“ war in diesem Falle – Johannes Mario Simmel! Kaisers Engagement für ihn wurde vielfach bespöttelt und als Verirrung gewertet, stellt jedoch ein weiteres, eindrucksvolles Zeugnis seiner Bestrebungen dar, allem gerecht zu werden, womit er sich befaßte. Simmel, ohne ihn auf eine Ebene mit Grass, Böll oder Walser stellen zu wollen, konnte er in einen größeren literarischen Traditionszusammenhang einordnen und sich so erschließen – auch hier bot sich ihm auf literarischem Gebiet eine Möglichkeit zum Verstehen, die sich in manchen Fragen musikalischer Natur nicht einstellen wollte: Wer ihn in seiner SZ-Videokolumne über Britney Spears, „Pop-Schlager“ und „Musik aus den ´Karts´“ (sprich: Charts) dozieren hört, dabei einerseits die Unterteilung in E und U zurecht als blödsinnig bezeichnend, ihr dann aber letztlich doch wieder verfallend, wird nicht recht glücklich und kann sich auch kaum vorstellen, daß er selbst hiermit glücklich gewesen sei. Aber: Kaiser stellte hiermit erneut unter Beweis, daß er die Herausforderung nicht scheute, sich dem ihm Wesensfremden zu stellen.

Glück – Geheimnis – Gelingen

In einem Interview mit der FAZ äußerte er einmal: „Wer möchte schon, siehe Hamlet, nach Verdienst behandelt werden… Ohne Glück geht es nicht. Denn alles Mißlingen hat seine Gründe, aber alles Gelingen sein Geheimnis.“

Vielleicht seine größte Leistung: Das, was er wohl weniger von seinen Vätern ererbte, was ihm wohl eher der liebe Gott mit auf den Weg gegeben hatte – seine angeborenen Verdienste tagtäglich durch Tätigkeit immer aufs Neue bestätigt, erworben und zu unser aller Frommen im Einsatz unermüdlich unter Beweis gestellt zu haben.

Wie sagte es doch Schiller in seiner Elegie „Das Glück“ – laut Thomas Mann, neben dem der junge Kaiser einmal bei einer Abendgesellschaft saß, und den er sich nicht anzusprechen traute, ein Liebesgedicht des sentimentalischen Dichters Schiller an den naiven (oder, wie man korrekterweise hinzufügen muß, am ehesten dem naiven Typus entsprechenden) Dichter Goethe:

„Zürne der Schönheit nicht, daß sie schön ist, daß sie verdienstlos,
Wie der Lilie Kelch, prangt durch der Venus Geschenk!
Laß sie die Glückliche sein; du schaust sie, du bist der Beglückte!
Wie sie ohne Verdienst glänzt, so entzücket sie dich.
Freue dich, daß die Gabe des Lieds vom Himmel herabkommt,
Daß der Sänger dir singt, was ihn die Muse gelehrt!
Weil der Gott ihn beseelt, so wird er dem Hörer zum Gotte;
Weil er der Glückliche ist, kannst du der Selige sein.
Auf dem geschäftigen Markt, da führe Themis die Waage,
Und es messe der Lohn streng an der Mühe sich ab;
Aber die Freude ruft nur ein Gott auf sterbliche Wangen,
Wo kein Wunder geschieht, ist kein Beglückter zu sehn.
Alles Menschliche muß erst werden und wachsen und reifen,
Und von Gestalt zu Gestalt führt es die bildende Zeit;
Aber das Glückliche siehst du nicht, das Schöne nicht werden,
Fertig von Ewigkeit her steht es vollendet vor dir.“


Foto: Joachim Kaiser (c) Jürgen Bauer