Bildschirmfoto 2020 10 15 um 00.08.21Neuentdeckung der Sammlung der Berlinischen Galerie ab 22. Oktober

Hanno Lustig

Berlin (Weltexpresso) - Berlin ist permanent im Wandel. Auch die Kunstszene der Stadt erfindet sich immer wieder neu. Diese wechselvolle Geschichte – vom Beginn der Moderne um 1900 bis in die 1980er Jahre – zu erzählen, ist Thema der Dauerausstellung „Kunst in Berlin 1880 –1980“.

Ab dem 22. Oktober 2020 werden auf mehr als 1000 Quadratmetern die Sammlung der Berlinischen Galerie in neuer Frische und Vielfalt vorgestellt. Unter den rund 250 ausgestellten Arbeiten sind selten oder noch nie gezeigte Werke aus Malerei, Grafik, Fotogra- fie, Architektur und den Archiven zu entdecken.

Der Rundgang ist eine Zeitreise durch Berlin in 18 Kapiteln: Kaiserreich, Weimarer Republik, national- sozialistische Diktatur, Neuanfang nach 1945, Kalter Krieg in der geteilten Stadt und die sich im Schatten der Mauer in Ost und West entwickelnden alternati- ven Gesellschafts- und Lebensentwürfe. In Ost- Berlin bildete sich ab den späten 1970er Jahren eine alternative Kulturszene aus. In West-Berlin zogen die aggressiven Werke der Neuen Wilden ab Ende der 1970er Jahre erneut international Aufmerksamkeit auf die geteilte Stadt.


Neu in der Dauerausstellung

Helden, Ritter, Ungeheuer

Lovis Corinth (1858–1925) schuf 1913/14 einen spektakulären elfteiligen Gemäldezyklus für den Berliner Großindustriellen Ludwig Katzenellenbogen und dessen erste Frau Estella. Sechs der Gemälde befinden sich in der Sammlung der Berlinischen Galerie. Die comic-haften monumentalen Wandbilder waren lange Jahre nicht zu sehen und setzen in der Treppenhalle einen eindrucksvollen Akzent. Sie entstanden für das Speisezimmer des heute zerstörten Gutshauses Freienhagen bei Oranienburg. Corinth ist eng mit dem Aufbruch Berlins in die Moderne verbunden. Er engagierte sich ab 1900 für die Berliner Secession und stellte regelmäßig mit ihr aus.

Zu ihren Ausstellungen luden die Secessionist*innen auch internationale Künstler*innen ein und zeigten die ganze Bandbreite moderner Stile: Naturalismus, Symbolismus, Jugendstil, Impressionismus und Pointillismus, die auch in der Dauerausstellung vertreten sind.


Der Sturm – Schauplatz der Avantgarde

Im März 1912 eröffnete Herwarth Walden (1878– 1941) in Berlin die Galerie „Der Sturm“. Sie wurde für anderthalb Jahrzehnte zu einem der wichtigsten Orte für moderne Kunst. Bereits der Name steht für die Energie und das Tempo, mit denen ihr Gründer die Avantgarden Europas nach Berlin holte. Waldens Interesse galt zunächst den noch wenig bekannten jungen Expressionist*innen, Futurist*innen und Kubist*innen. Mit sicherem Gespür für neue visuelle Formen zeigte er in den 1920er Jahren die ungarischen Konstruktivist*innen und den Russen Iwan Puni (1892–1956) oder bot dem Merz-Künstler Kurt Schwitters (1887–1948) ein Forum. Ebenso rastlos wie streitfreudig setzte er sich für „seine“ Künstler*innen ein, so dass „Der Sturm“ zum Inbegriff fortschrittlicher Kunstrichtungen wurde. Die Geschichte der Avantgarde-Galerie wird anhand zahlreicher Kunst- werke und Originaldokumente aus unseren Künst- ler*innen-Archiven erzählt.


Dada in Berlin

Lange waren ihre Werke, die zu den kostbarsten der Sammlung zählen, auf Reisen. Jetzt ist die Anti-Kunst der Dadaist*innen wieder im eigenen Haus zu sehen. Die Dada-Bewegung entstand als politisch- künstlerische Reaktion auf den Ersten Weltkrieg. Ihre Berliner Hauptvertreter*innen waren Hannah Höch (1889–1978), Raoul Hausmann (1886–1971), John Heartfield (1891–1968), George Grosz (1893–1959) und Johannes Baader (1875–1955). Mit ihren Arbeiten bezogen die Dadaist*innen radikal Stellung gegen den deutschen Nationalismus und Militarismus. Dada fand neue künstlerische Ausdrucksformen, mit denen die Künstler*innen aufklärerische Absichten verbanden. Provokation und Schock – in Bildern wie bei Bühnenauftritten – sollten die Gesellschaft zum Nachdenken über sich selbst anregen.


Gesichter der Großstadt

Eine lose Gruppierung von Künstler*innen entwickelte bereits Anfang der 1920er Jahre in Deutschland einen Stil, der auf die oft harte Lebensrealität reagierte. Er wurde schon bald als Neue Sachlichkeit bezeichnet. Die neusachlichen Maler*innen verband kein programmatisches Manifest. Sie orientierten sich vielmehr an der sichtbaren Welt. Damit distanzierten sie sich von der Formzertrümmerung des Expressionismus, aber auch von der antibürgerlichen Haltung des Dadaismus. Die ausgestellten Porträts der 1920er Jahre weisen ein breites Spektrum an künstlerischen Handschriften auf. Menschen und Gegenstände sind meist kühl, nüchtern und isoliert voneinander im Raum wiedergegeben.


Robert Petschow und das Neue Sehen

Im Rahmen des Thomas-Friedrich-Stipendiumsfür Fotografieforschung und als Beitrag zum Europäischen Monat der Fotografie (EMOP) werden Arbeiten von Robert Petschow (1888–1945) gezeigt. In der Weimarer Republik war Petschow ein bekannter Ballonsportler. Bis 1935 unternahm er fast 400 Fahrten. Seine Luftaufnahmen erschienen nicht nur in Fachzeitschriften und Illustrierten, sondern wurden von ihm auch in Lichtbildvorträgen präsentiert. Als Fotograf begleitete er zudem die großen Luftschiffe jener Jahre. Ende der 1920er Jahre wurde seine Luftbildfotografie auch von der Avantgarde rezipiert. Die Bilder fanden Eingang in Ausstellungen und Publikationen, die heute mit dem Neuen Sehen verbunden werden.


Herbert Tobias – Fotografien der 1940er Jahre

Herbert Tobias‘ (1924–1982) Bilder aus Russland gehören zu den bemerkenswertesten Kriegsfotografien aus dem Zweiten Weltkrieg. Im Jahr 1943 wurde er als Soldat an die Ostfront in der Sowjetunion geschickt. Bereits mit 19 Jahren war Tobias ein talentierter Amateurfotograf. Wie viele Soldaten hat auch er im Krieg fotografiert, doch die metaphorische Dichte und Symbolhaftigkeit seiner Fotografien gehen über die üblichen Erinnerungsaufnahmen weit hinaus. In den einfühlsamen Bildern offenbart sich die Brutalität des Krieges, die Tobias‘ Haltung zur Welt nachhaltig prägte. Auch seine homosexuellen Neigungen werden hier noch vor seinem Coming- Out spürbar.


Individuell und funktional – Einfamilienhäuser in Berlin ab 1950

Vor allem im Westteil der Stadt entstanden seit den 1950er Jahren anspruchsvoll gestaltete Einfamilienhäuser. Ihre Architekt*innen orientierten sich bewusst an der Ästhetik des Neuen Bauens der 1920er Jahre. Die stilistische Spannbreite reichte vom organischen Bauen mit freien unregelmäßigen Formen nach dem Vorbild Hans Scharouns (1893–1972) bis zur Anknüpfung an die von Funktionalität und Klarheit geprägten Ideale des Bauhauses. Die Grundrisse und ihre vielfältigen Bezüge zum Außenraum wurden eng auf die Bedürfnisse der Bewohner*innen abgestimmt. Jedes Haus erhielt einen unverwechselbaren Charakter.


Künstlerische Fotografie in der DDR der 1980er Jahre

Ost-Berlin war seit den späten 1970er Jahren der wichtigste Ort für eine alternative Kulturszene in der DDR. Vor allem junge Künstler*innen distanzierten sich vom ideologisch geprägten Begriff des sozialistischen Realismus und entwickelten einen Gegenentwurf zu dessen vermeintlich wirklichkeitsnaher Darstellung des sozialistischen Alltags. Mit Nachdruck bestanden immer mehr junge Fotograf*innen auf ihre subjektive Wahrnehmung der Welt und forderten einen kompromisslosen Blick auf die Realität in der DDR. In den 1980er Jahren wurden in Galerien, Klub- und Kulturhäusern Ausstellungen organisiert, die zwar klein, aber für die Fotografieszene der DDR von großer Bedeutung waren. Gezeigt werden Werke von Ulrich Wüst (*1949) und Maria Sewcz (*1960).


Ausstellungskapitel

Die Dauerausstellung gliedert sich in 18 Kapitel:
∙Helden, Ritter, Ungeheuer. Lovis Corinths Katzenellenbogen-Zyklus
∙  Konservativ und modern. Kunst um 1900 ∙Richard Ziegler, Knabe im Sandkasten, 1926, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Aufbruch in die Moderne. Berliner Kunst um 1900 ∙  Robert Petschow und das Neue Sehen ∙  Der Sturm. Schauplatz der Avantgarde 1912–1929 ∙  Aufruhr und Neuanfang. Avantgarden in Berlin 1910–1933 ∙  Dada in Berlin. Radikale Kunst ab 1918 ∙  Drehscheibe zwischen Ost und West. Konstruktivis- mus und Neues Sehen in den 1920er Jahren ∙  Gesichter der Großstadt. Neue Sachlichkeit der 1920er Jahre ∙  Metropole Berlin. Neue Sachlichkeit der 1920er Jahre ∙  Berlin im Nationalsozialismus. Kunst 1933–1945 ∙  Isoliert. Künstler*innen im Nationalsozialismus 1933–1945 ∙  Stadt in Trümmern. Berlin nach 1945 ∙  Abstraktion als Sprache der Freiheit. Kunst um 1950 ∙  Individuell und funktional. Einfamilienhäuser in Berlin ab 1950 ∙  Im Schatten der Mauer. Malerei der 1960er bis 1980er Jahre ∙ Die junge Generation. Fotografie in der DDR der 1980er Jahre

Künstler*innen (Auswahl)

Johannes Baader, Hans Bandel, Otto Bartning, Georg Baselitz, Max Beckmann, Klaus Bergner, Theo von Brockhusen, Lovis Corinth, Hermann Fehling, Rainer Fetting, Naum Gabo, George Grosz, Raoul Hausmann, John Heartfield, Jakoba van Heemskerk, Werner Heldt, Hannah Höch, Oskar Kokoschka, Walter Leistikow, Jeanne Mammen, Ludwig Meidner, Robert Petschow, Ivan Puni, Sergius Ruegenberg, Heinz Schudnagies, Eugen Schönebeck, Kurt Schwitters, Maria Sewcz,
Fred Thieler, Herbert Tobias, Hans Uhlmann, Julie Wolfthorn, Anton von Werner, Ulrich Wüst, Heinrich Zille
 

45 Jahre Berlinische Galerie

Die Berlinische Galerie feiert 2020 ihr 45-jähriges Bestehen. 1975 wurde das heutige Landesmuseum als Verein für in Berlin entstandene moderne Kunst, Fotografie und Architektur durch Eberhard Roters gegründet. Die erste Adresse war ein kleines Büro in der Schlossstraße (Berlin-Charlottenburg). Vom 21. bis 23. November 1975 fand die Eröffnungsausstellung in der Akademie der Künste Berlin statt.

1978 bezog die Berlinische Galerie erstmals eigene Ausstellungsräume in der Jebensstraße (heute Museum für Fotografie), und von 1986 bis 1997 befand sie sich im Martin Gropius Bau. Die Suche nach einem neuen Standort endete 2004 mit der Eröffnung des Museums im ehemaligen Glaslager in Kreuzberg, in unmittelbarer Nähe zum Jüdischen Museum Berlin.

Auf dem Weg zum barrierefreien Museum: Die Dauerausstellung ist mit verschiedenen Sinnen erfahrbar: Tastmodelle und ein Audioguide mit 17 Hörstationen in deutscher und englischer Sprache ermöglichen einen inklusiven Rundgang durch 100 Jahre Kunst in Berlin. Dieser kann kostenlos als App heruntergeladen werden. Alle Ausstellungstexte sind kontrastreich gestaltet und stehen sehbehinderten Menschen als Großdruck zur Verfügung. Zusätzlich bietet ein taktiles Bodenleitsystem und einen barrierefreien Zugang zur Dauerausstellung. Aufgrund der Corona-Pandemie können die Tastmodelle derzeit leider nicht ausgestellt werden.

Foto:
Richard Ziegler, Knabe im Sandkasten, 1926, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020