Hanswerner Kruse
Frankfurt (Weltexpresso) - Es war ein trauriger Abschied, zu dem die Schlüchterner Künstlerin Hannah Wölfel Freunde, Bekannte und Verwandte in das Gemeindehaus der evangelischen St. Nicolaigemeinde in Frankfurt einlud. Hier hatte sie als Auftragsarbeit vor dreißig Jahren ein Wandrelief geschaffen, das den Heiligen Nikolaus und sein Wirken darstellt. Für den Neubau eines Wohnhauses soll das Gebäude samt Kunstwerk demnächst abgerissen werden.
„Die Welt ist aus den Fugen geraten“, erläuterte Wölfel ihr Relief den Gästen: Gefangene flehen um ihr Leben. Schiffbrüchige kämpfen mit den Wogen. Endlose Schlangen von Geflüchteten winden sich durch die Welt. Doch zentral darüber im hellen Licht ist der Heilige Nikolaus angedeutet. Hoffnungsvoll schützt er die fein ausgearbeiteten, schlummernd wirkenden Kinder und steht als Patron für die Leidenden auf den düsteren Bildern darunter.
Ihre Arbeit changiert zwischen symbolischer Abbildung und Abstraktion: die Gefangenen hinter Gittern werden stark reduziert auf schreiende Münder und flehende Arme. Im Meer tauchen zwischen Wellen und Bootstrümmern große Gesichter Ertrinkender auf. Durch diese starke Stilisierung und Reduktion dieser Gestaltung vermeidet sie Kitsch und allzu heftige emotionale Überwältigung der Betrachter. Die Stadt Myra, in der Nikolaus im 4. Jahrhundert als Bischof wirkte, ist links symbolisch durch ihre Zwiebeltürme dargestellt, die südliche Landschaft ist rechts das gestalterische Gegengewicht.
Symbolisch verweisen die Stiefel auf die vielen Nikolausbräuche in der lateinischen Kirche und der Ostkirche. „Die goldenen Kugeln stehen für Nikolaus’ Gaben an arme Mädchen, um sie vor der Prostitution zu bewahren“, erklärt die Künstlerin.
Es ist erstaunlich, mit welch künstlerischer Sicherheit Wölfel bereits in den 1990er-Jahren die historischen Legenden um den Heiligen Nikolaus in die Gegenwart übersetzte. Und wie aktuell sind sie erst heutzutage: Wer denkt bei ihrem Relief nicht an das Grauen des Krieges in der Ukraine? Das weitweite Elend der Flüchtlinge? Ihren grausigen Tod im Mittelmeer?
Nach einer öffentlichen Ausschreibung im Jahr 1992 bekam die Keramikerin aufgrund ihres Entwurfs den Zuschlag, die Wand im Gemeindehaus mit einem Keramikrelief und Malerei zu gestalten. Dafür formte sie in ihrer Schlüchterner Werkstatt aus Steinzeug-Ton alle einzelnen Teile der Wandskulptur, die sie glasierte, bei 1260° C brannte und später in Frankfurt zusammenfügte. Bei der, von der Auftraggeberin geforderten „erdbebensicheren Montage“, unterstützte sie die Schlüchterner Firma Wirthmann. Die stellte das Gerüst und befestigte aufwendig Platten an der Wand, auf denen die Künstlerin ihre gebrannten Keramikteile anbrachte, verfugte und mit Malerei verband.
Lieblos informierte die Kirchengemeinde Wölfel bereits im letzten Jahr mehrfach telefonisch über den geplanten Abriss und empfahl ihr, doch auf eigene Kosten das Kunstwerk abzubauen. Offensichtlich besteht seitens der Kirche keinerlei Interesse an seiner Erhaltung. Aufgrund der einst geforderten sicheren Befestigung, ist es heute jedoch unmöglich, die Installation von der Wand zu lösen. Die Künstlerin hat zwar aufgrund ihres Urheberrechts die Möglichkeit, die Zustimmung zum Abriss zu verweigern. Durch ein Urteil des Bundesgerichtshofes ist dieses Recht zwar 2019 festgeschrieben worden, zugleich wurde aber auch festgelegt, dass es durch ökonomische Interessen aufgehoben werden kann.
Auch Wölfels keramisches Doppelrelief des Erzengels Michael in der evangelischen Stadtkirche St. Michael in Schlüchtern war im letzten Jahr vom Abriss bedroht. Mit zwei Wandskulpturen schuf sie hier vor 25 Jahren den Engel als furchtlosen Kämpfer gegen das Böse, verkörpert durch den Drachen, aber auch als Begleiter für die menschlichen Seelen in den Himmel. Im fernen Kassel wurde entschieden, dass die Objekte der Keramikerin nicht (mehr) zum neo-klassizistischen Stil passen, in den die Kirche jetzt verwandelt wird. Doch die Künstlerin verweigerte ihre Zustimmung und konnte sich mit dem Kirchenvorstand auf den Erhalt ihres Kunstwerks einigen:
Schließlich haben sich viele Gemeindemitglieder 25 Jahre lang zwischen den Engeln trauen oder ihre Kinder taufen lassen, das Abendmahl oder die Konfirmation wurde zwischen ihnen zelebriert. Sie gehören einfach an diesen Ort und haben eine eigene Tradition begründet: Sie sind selbst ein Stück Geschichte dieser Kirche geworden!
Fotos:
Hanswerner Kruse
Info:
Nikolaus von Myra (nach Wikipedia)
Nikolaus wirkte in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts als Bischof in Myra (der heutigen Türkei) und ist einer der bekanntesten Heiligen der lateinischen Kirche und der Ostkirchen. Sein Gedenktag, der 6. Dezember, wird im gesamten Christentum begangen und ist mit zahlreichen Bräuchen verbunden. Während der frühen Christenverfolgungen wurde er gefangen genommen und gefoltert. Sein geerbtes Vermögen verteilte er unter den Notleidenden. Doch es sind nur wenige Informationen belegt, deshalb ranken sich viele Legenden um sein Leben und Wirken. Er gilt als eine Art „Universalheiliger“ und wurde zum Patron zahlreicher sozialer Gruppen und Berufe:
Seefahrer, Binnenschiffer, Kaufmänner, Rechtsanwälte, Apotheker, Metzger und Bäcker, von Getreidehändlern, Dreschern, Pfandleihern, Juristen, Schneidern, Küfern, Fuhrleuten und Salzsiedern. Nikolaus ist Patron der Schüler und Studenten, Pilger und Reisenden, Liebenden und Gebärenden, der Alten, Ministranten und Kinder und auch von Dieben, Gefängniswärtern, Prostituierten und Gefangenen.
Aus dem Schutzpatronat für die Kinder leitet sich das heutige Brauchtum ab.