IMG 6236Der Frankfurter Maler Carl Theodor Reiffenstein (1820-1893) hält im Bild fest: ALLES VERSCHWINDET! , Teil 1/2

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Er war seiner Zeit voraus, dieser Reiffenstein, der schon im 19. Jahrhundert auf das Abreißen seiner gewohnten Frankfurter Umwelt reagierte, als es noch keinen Denkmalschutz und keine Bürgerbewegung für den Erhalt der gewohnten Welt gab. Sein Leben lang hielt er in Skizzen, Zeichnungen, Aquarellen, Gemälden fest, wie es war, das Frankfurt seiner Kindheit, das vor seinen Augen verschwand in diesem fortschrittssüchtigen Jahrhundert

des Rückgangs des Handwerks und der Kleinbauern zugunsten der eintretenden Industrialisierung mit Arbeitern und Arbeiterinnen, die untergebracht werden mußten, was zur Auflösung der Großfamilien führte und dem Bedarf an kleinen Wohnungen für die neue proletarische oder kleinbürgerliche Kleinfamilie und an repräsentativen Wohnungen und Häusern für die bürgerlichen Schichten, erst recht für den noch bedeutenden Adel und die Industriebosse der Zeit, die sich mehrstöckige Häuser und Villen im Stil des Historismus bauen ließen, die den Leuten auch heute gefallen, für Reiffenstein und sehr lange für alle Kunstexperten aber das schiache 19. Jahrhundert mit seinem Stilmix bedeuteten, der guten Geschmack vermissen ließ. „Das soll schön seyn?“, höhnte Reiffenstein deutlich. So ändern sich die Zeiten und der Geschmack.

statueSieht man sich jedoch die liebevoll gestalteten Häuserzeilen, Giebel, gewundene Treppen, schmale Gassen und Holzverzierungen an, die Bauplastik, die gotischen Anklänge heute verschwundener Häuser, die Erker, das Fachwerk, der kunstvoll behauene Sandstein, dann versteht man Reiffenstein sehr gut, der in Frankfurt geboren und aufgewachsen ist, der die malerische und zeichnerische Erinnerung an das alte Frankfurt eher als Privatvergnügen betrieb, wenngleich in über 2000 Blättern. Denn im Brotberuf war er Maler, spezialisiert auf die Landschaftsmalerei, seine Gemälde finden sich im Städel und auch in der Ausstellung sind sie zu sehen. Doch das Hauptaugenmerk der Ausstellung sind die Frankfurter ...Veduten zu sagen, trifft es nicht ganz, denn das sind zwar wirklichkeitsgetreue Darstellungen, aber auch relativ emotionslose. Reiffensteins Zeichnungen und Aquarelle sind ebenso wirklichkeitsgetreu, das zeigen zeitgenössische Fotos, vermitteln aber noch heute beim Anschauen in ihrer Zartheit und Farbgebung eine, ja eine nostalgische Stimmung, eine von Wehmut und Vergehen gekennzeichnete.

Mit dem Gegenteil fängt die Ausstellung spektakulär an. Eine tolle Idee, die Sprengung des AfE-Turms von 1972 zwischen der alten Universität Bockenheim und Messe vom Februar 2014 großformatig auf dem Bildschirm in Zeitlupe wiederzugeben, die damals im Fernsehen übertragen wurde. Eindrucksvoll sinkt ein ganzes 116stöckiges Hochhaus in sich zusammen und produziert eine Staubwolke, in der alles verschwindet und taucht im Rückwärtsgang aus dieser Betonstaubwolke wieder auf und steht als Hochhaus da, einige Sekunden, bis es wieder zusammenfällt. Gute vierzig Jahre durfte dies Hochhaus nur stehen, doch die Gebäude, die Reiffenstein festhielt, waren teils aus dem Mittelalter, der Gotik, der Renaissance, dem Barock und er zeichnete sie aus doppeltem Grund. Zum einen hielt er – ja, wie Marcel Proust es in Worten tat – seine Kindheitserinnerungen in Bildern fest, aber er wollte auch auf die Schönheit, die Eigenart, das Individuelle dieser verschwundenen Häuser und ganzer Ensembles aufmerksam machen, sie dokumentieren. Anders als sein Zeitgenosse Carl Friedrich Mylius, der Fotograf des sich verändernden Frankfurts, der auch die Neubauten aufnahm, waren Reiffenstein nur vergehenden und vergangenen Gebäude etc. seiner Zeichnung wert. 

Dabei gab es keine Zettelwirtschaft, sondern er schrieb in großen Kladden, sogenannten Klebealben, die Umstände der jeweiligen Zeichnungen und Aquarelle auf und klebte die Blätter ein, die dann später wiederum aus den Klebealben entfernt und einzeln aufbewahrt wurden. Zum ersten Mal wird dieser Schatz nun dem Frankfurter Publikum gezeigt, der bisher den meisten unbekannt blieb, nun aber in zehnjähriger Arbeit auch digital perfekt aufbereitet jedem die Möglichkeit gibt, das Frankfurt von damals sich vor Augen zu führen.

Fortsetzung folgt

Fotos:
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Info:
Alles verschwindet! Carl Theodor Reiffenstein (1820-1893). Bildchronist des alten Frankfurt, hrsg. von Wolfgang P. Cileßen und Aude-line Schamschula, Historisches Museum Frankfurt, 2022