
Hanswerner Kruse
Berlin (Weltexpresso) - Noch bevor die Musik beginnt, stakst ein Wanderer mit weiten, grotesken Bewegungen über die Bühne. Der zusammengeknäulte Schwarm schwarzer Gestalten erwacht langsam, synchron. Am Rand steht starr eine Frau, die mit verbundenen Augen einen Raben hält. Dann erklingt das bewegende Lied: „Fremd bin ich eingezogen / Fremd zieh‘ ich wieder aus.“
Mit diesen klagenden Worten des Dichters Wilhelm Müller beginnen die Gesänge der „Winterreise“. Bereits darin verdichtet sich das gesamte Thema von Verlassenheit und sozialer Kälte. Die neue Aufführung im Berliner Staatsballett ist jedoch die zeitgenössische Interpretation dieser romantischen Verse. Es sind nicht die wohlklingenden Sologesänge des Wanderers zu Franz Schuberts Klavierklängen zu hören, obwohl er in seiner Zeit heftig umstritten war. Stattdessen erleben wir die krasse Version des Komponisten Hans Zender aus dem Jahr 1993, komponiert für Tenor und kleines Orchester. Dazu tanzt das Berliner Staatsballett Assoziationen zu den 24 Gedichten Müllers.
Zenders „komponierte Interpretation“ greift auf das gesamte Spektrum neoromantischer und moderner Klänge zurück – bis zur Neuen Musik, ergänzt um alltägliche und exotische Geräusche. Tenor Matthew Newlin beherrscht die von Zender geforderten sanften oder kräftigen Gesänge ebenso wie Sprechgesang und groteske Stimmspiele. Das alles sollte man wissen – denn natürlich wirken auch die Choreografien zu den 24 Gedichten sehr zeitgemäß. Sie changieren zwischen modernem Ballett und aktuellem Tanztheater. Choreograf Christian Spuck wollte die Dichtungen nicht tänzerisch illustrieren, sondern vielmehr das Innere des einsamen und traurigen Wanderers in der rauen Natur zeigen. Er hat großes Interesse an verrätselten und abstrakten Tanzbildern.
Man weiß nicht genau was dem Protagonisten der „Winterreise“ widerfahren ist – offenbar hat die Geliebte ihn verlassen müssen. Nun streift er ziellos durch die kalte Welt, in jener verträumten Haltung, mit der die Romantiker das Wandern als Selbstzweck verklärten. Bereits in den ersten Szenen wird das deutlich, die nun durchgehend zu eigenen Assoziationen herausfordern.
Freie, häufig rätselhafte Bilder ziehen sich durch alle Szenen, bis das Werk eineinhalb Stunden später mit dem gesamten, fast nackt wirkenden Ensemble endet (Foto links). Alle haben die Augen verbunden und sind in seltsamen Posen eingefroren. Auf oder in den Händen halten sie schwarze Raben, die gleich losfliegen werden. Davor tanzt noch einmal das dunkel gekleidete Paar, während der Tenor zum Abschied das „Lied vom Leiermann“ singt: „Wunderlicher Alter / Soll ich mit dir gehen?“
Die 24 getanzten Szenen, in denen die Beteiligten häufig zu Bildern einfrieren, werden meist scharf getrennt, manchmal gehen sie auch fließend ineinander über. Besonders eindrucksvoll erscheinen die bildhaften Gruppenszenen, etwa zu „Der Lindenbaum“: Mit zarten, liebevollen Bewegungen kommt ein nackt anmutendes Paar aus der Tiefe des Raumes und tanzt Pas de deux. Äußerst bedächtig schreiten schwarz gekleidete Männer auf kurzen Stelzen und gekreuztem Geäst auf den Köpfen um sie herum. Oft wirken die schwarz gekleideten Tanzenden düster. Wiederholt stehen Männer an den Seitenwänden, halten die Frauen fest, die sich aus den Umklammerungen herauswinden. Oder die Tänzer rutschen behutsam an den Mauern herunter. Mal wird das Ensemble zur „Wasserflut“ und formt dann eine Tänzerin. Mal lassen Tänzer eine Frau fliegen…
Später schreiten viele Frauen in dicken tristen Mänteln über die Bühne. Im Pas de deux vor ihnen scheint sich die Tänzerin dem Wanderer hinzugeben. Im nächsten Bild rennen die Frauen nun durch etwas Schnee, der leise vom Bühnenhimmel rieselt. Drei Männer tanzen miteinander. Die Frau mit dem Vogel erscheint wieder, während alle anderen langsam verschwinden. Zweimal wechseln die Tänzerinnen in den Spitzentanz, was sehr verfremdend wirkt.
Es werden viele Pas de deux präsentiert, wilde, sanfte, kämpferische (Foto rechts). Manche spiegeln wohl Erinnerungen des Wanderers an die verlorene Geliebte oder Trauer über die Trennung. Meist aber können wir die inneren Kämpfe des Mannes, seine widerstreitenden Gefühle, durch die Pas de deux miterleben. Gelegentlich werden die Paare auch verdoppelt oder verdreifacht, was die dramatische Wirkung noch eindringlicher macht.
Dem Choreografen ist es gelungen, Text und Musik mit den Tanzbildern in einen Dialog zu bringen. Das lyrische Ich – also der erzählende Sänger – beherrscht nicht die Bühne, sondern steht erhöht im Orchestergraben. Später mischt er sich gelegentlich unter die Tanzenden. Doch immer ist deutlich, dass der Wanderer nicht nur durch einen Künstler dargestellt wird. In der gesamten Inszenierung werden die soziale Kälte und Verlorenheit spürbar. Die „Winterreise“ ist – auch oder gerade nach 200 Jahren - die Reise durch eine unwirtliche, fremde Welt, in der Menschen noch immer verzweifelt nach Wärme und Geborgenheit suchen. Immerhin lässt sich zeitweiliger Frieden in einem Kunstwerk wie der „Winterreise“ finden.
Fotos:
© Carlos Quezada
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