STÄDEL MUSEUM FRANKFURT ENTDECKT NEUES KIRCHNER-GEMÄLDE
Roman Herzig
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Forschen und Bewahren tut gut. Manchmal entdeckt man dann so etwas: Im Rahmen einer technologischen Untersuchung des Werkes Schlittenfahrt im Schnee (1927–1929) von Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) ist im Städel Museum ein bisher unbekanntes Gemälde des bedeutenden Expressionisten und Gründungsmitglieds der Künstlervereinigung Brücke aufgetaucht.
Szene im Café verbarg sich unter der Leinwand der später entstandenen Schlittenfahrt im Schnee. Das Gemälde wurde 1987 von dem Frankfurter Unternehmer und Mäzen Dr. Kurt Möllgaard dem Städelschen Museums-Verein geschenkt, wobei die doppelte Bespannung des Keilrahmens bisher unentdeckt blieb. Nach eingehender Analyse sind beide Gemälde ab sofort bis März 2017 als Teil der Kabinettpräsentation „Über das Untersuchen, Finden und Restaurieren von Bildern“ im Sammlungsbereich Kunst der Moderne ausgestellt. Anhand von insgesamt fünf Beispielen wird ein Einblick in aktuelle Forschungs- und Restaurierungstätigkeiten des Museums geboten. Im Zentrum stehen dabei künstlerische Materialien, Techniken und Werkprozesse sowie alterungsbedingte Zustandsveränderungen und deren restauratorische Behandlung.
„Die neu entdeckte Szene im Café bereichert den Städelschen Bestand an expressionistischen Arbeiten um ein Gemälde, das die stilistischen Änderungen in Kirchners Œuvre der 1920er-Jahre eindringlich vor Augen führt. Werke der Brücke-Künstler und insbesondere auch Arbeiten von Kirchner selbst gehören zu den Schwerpunkten unserer Sammlung der Moderne“, erklärt Städel Direktor Philipp Demandt. „Der glückliche Fund von Szene im Café baut diesen Fokus weiter aus.“
Entstanden ist das Werk um 1926, als sich Kirchner bereits seit acht Jahren in die Nähe des Schweizer Ortes Davos zurückgezogen hatte. In dieser Zeit veränderte sich sein Stil maßgeblich: Die zackige, nervöse Linienführung seines Frühwerks wich einer betont flächigen Malweise und einem oft rigiden, stark abstrahierenden Bildaufbau. Während viele der damals entstandenen Werke das ländliche Leben in den Bergen thematisieren, verweist Szene im Café auf Kirchners fortwährendes Interesse am urbanen Alltagsleben und der mondänen Welt von Bars und Varietés, dem er sich auch in früheren Städel Werken wie Varieté; Englisches Tanzpaar (um 1909/26) gewidmet hat. Schlittenfahrt im Schnee befand sich bis zum Tod Kirchners 1938 in seinem Besitz. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es aus dem Nachlass an einen Privatsammler verkauft, bevor Dr. Kurt Möllgaard das Bild 1965 von der Galerie Roman Norbert Ketterer, Campione, erwarb. 1987 schenkte der Frankfurter Mäzen Möllgaard das Werk dem Städelschen Museums-Verein.
Die Neuentdeckung eines intakten, abgeschlossenen Werks unter einem Gemälde von gleicher Hand mag zunächst verblüffen. Allerdings ist dies nicht der einzige Fall, in dem Kirchner mehrere Leinwände auf ein und denselben Keilrahmen aufspannte. In einem Brief vom Februar 1918 bat er den Sammler und Mäzen Carl Hagemann, bei Käufern zweier seiner Werke nachzufragen, ob unter diesen nicht eventuell weitere Leinwände aufzufinden seien. Als Grund für diese Vorgehensweise gab Kirchner den Mangel an zur Verfügung stehenden Keilrahmen an: „Sehr geehrter Herr Doktor! Würden Sie wohl die Liebenswürdigkeit haben bei der Fehmarnlandschaft bei Herrn Isernhagen und dem blühenden Kastanienbaum bei Herrn Clingstein nachsehen zu lassen bei Gelegenheit, ob unter dem verkauften Bild noch andere Bilder darunter auf dem Keilrahmen gespannt sind. Es ging mir des öfteren so, dass 3–4 Leinwände übereinander gezogen wurden, wenn ich keine Keilrahmen hatte.“ Weitere Beispiele von übereinander gespannten, bemalten Leinwänden Kirchners wurden bereits 1969 sowie 1970 am Bündner Kunstmuseum Chur entdeckt. Dort fand man unter den Werken Bergwald (1937) und Augustfeuer (1933–35) ebenfalls Leinwände mit früheren Kompositionen. Kirchner verwendete auch bei Schlittenfahrt im Schnee sowie bei Szene im Café denselben Keilrahmen, der während der technologischen Untersuchung am Städel noch die originale Aufspannung aufzeigte. Spuren der Grundierung beider Gemälde waren zudem auf der Rahmenkonstruktion sichtbar.
Felix Krämer, Sammlungsleiter für die Kunst der Moderne, zeigt sich von diesem Glücksfund sehr erfreut: „Das Städel verfügt zwar über einen außergewöhnlich qualitätvollen Bestand an Brücke-Werken“, so der Kunsthistoriker, der 2010 die Kirchner-Retrospektive am Städel kuratierte, „allerdings haben wir bislang nur wenige repräsentative Gemälde aus dem Spätwerk Kirchners. Der Fund der Szene im Café ist auch gerade in diesem Sinne eine bedeutende Bereicherung unserer Expressionismus-Sammlung.“
Einen weiteren bedeutenden Fund machten die Restauratoren des Städel Museums bei der Untersuchung des kürzlich angekauften Gemäldes Glasbild II (1928), ein Hauptwerk von Walter Dexel (1890–1973). Auf dem Rückseitenschutz des Gemäldes entdeckten sie ein Fragment von Haus mit Zwiebelturm (1917), das in dem 1995 erschienenen Werkverzeichnis zu Dexel abgebildet und dort als verschollen aufgeführt wird. Genau wie die Gemälde Kirchners werden auch diese Bilder erstmals im Rahmen der neuen Kabinettpräsentation Seite an Seite zu sehen sein. Ergänzt werden sie von weiteren im Restaurierungsatelier des Städel Museums bearbeiteten Werken. Alle in der Ausstellung dokumentierten Untersuchungen sowie sämtliche Konservierungen und Restaurierungen der Präsentation wurden von der Diplomrestauratorin Eva Bader durchgeführt.
„Solche Funde ereignen sich nicht jeden Tag. Die technologische Erforschung unserer Sammlungsobjekte ist für unsere Arbeit essentiell, weil sie uns Erkenntnisse über Entstehungsprozesse und künstlerische Arbeitsweisen ermöglicht. Daher freuen wir uns, mit der neuen Kabinettpräsentation einen Einblick in unsere Tätigkeit geben zu können“, so Stephan Knobloch, Leiter Restaurierung – Gemälde und moderne Skulpturen im Städel Museum.
Foto: Kirchner, Szene im Café