kurt ossiErinnerung an Oswald

Conrad Taler

Unterwegs (Weltexpresso) - Aus München kommend ist Oswald zu mir gestoßen, ein Freund aus frühen Kindheitstagen. Wir wollen auf die Schneekoppe, aber die „ale Kaake” - wie sie mundartlich genannt wurde - hat sich nach einem Kälteeinbruch ganz in Weiß gehüllt. Dafür sind wir nicht ausgerüstet. ..

In fünfzehn Minuten sind wir von Trautenau aus mit dem Auto in Bohuslavice nad Úpou, dem ehemaligen Bausnitz an der Aupa. Hier sind wir als Kinder zur Schule gegangen. Die Dorfschmiede mit der 400 Jahre alten Riesenlinde ist einer Straßenbegradigung zum Opfer gefallen. Das Schulgebäude steht noch. Sie wird von Vietnamesen bewohnt, die vor dem Fremdenhass aus der ehemaligen DDR hierher geflüchtet sein sollen. Zwei von ihnen grüßen uns artig auf Tschechisch, als wir den schmalen Weg zur Haltestelle der Bahnlinie Trutnov - Upice (Eipel) hinaufsteigen.

Von hier oben bietet der Ort immer noch das vertraute Bild. Jedes Fleckchen ist mit Erinnerungen verknüpft, an Lausbubenstreiche oder nächtliche Streifzüge um das Haus einer angebeteten Schönen. Würden wir jetzt den Geleisen durch den Eisenbahntunnel folgen, wie wir das früher verbotenerweise getan haben, wären wir rasch auf der anderen Seite des Berges, hinter dem Adamov liegt, das ehemalige Adamstal. Aber wir benutzen die Straße, die sich an der Aupa entlang in einer weiten Schleife um den Berg windet. Unvermittelt liegt dann Adamstal vor uns, der Ort unsere Kindheit.

Der winzige Flecken verdankt seine Entstehung dem Textilfabrikanten und Flugpionier Igo Etrich, der dort um die Jahrhundertwende eine Flachsgarnspinnerei bauen ließ und eine aus neun Häusern bestehende Arbeitersiedlung direkt daneben. Einen kleinen Bauernhof gab es dort noch und ein Lebensmittelgeschäft, in dem es alles zu kaufen gab, Brot und Bratheringe, Mehl und Schulhefte, Schnürsenkel und gemahlenen Mohn, Zwirn und Nähnadeln, und einmal in der Woche Pferdewürstchen für 50 Heller das Stück.

Auf den ersten Blick sieht alles unverändert aus, nur ein Haus fehlt, ausgerechnet jenes Haus, in dem ich gewohnt habe. Es musste einer Pumpstation für das Fernwärmenetz weichen.

Von den neuen Bewohnern Adamstals dürfte unser Missbehagen angesichts des allzu augenfälligen Fortschritts kaum geteilt werden. Niemand braucht jetzt im Wald nach Brennholz für den Winter zu suchen, wie wir das noch tun mussten, und niemand muss Wasser in schweren Eimern vom Brunnen ins Haus zu schleppen, weil es längst auch eine Wasserleitung gibt. Dem Plumpsklo im Holzschuppen neben dem Wohnhaus, in dem es während der kalten Jahreszeit recht ungemütlich war, weint sicher gleichfalls niemand eine Träne nach. Ja, ganz so toll, wie manche meinen, war es in der alten Heimat nicht immer, weder vor dem „Anschluss” noch hinterher, als die „Wir wollen heim ins Reich” - Rufe verklungen und den Klagen um gefallene Väter und Söhne gewichen waren.

Was empfinde ich am Ende der Reise? Wehmut erfüllt mich, die von der Rückschau auf das eigene Leben stärker bestimmt ist, als von den Äußerlichkeiten des Wiedersehens mit der alten Heimat. Ihr Bild wirkt auf mich wie die verstaubte Kulisse eines abgesetzten Theaterstücks. Wie hat das Herz mir geblutet, als ich von hier wegmusste, jetzt bin ich wiedergekommen und nichts drängt mich zum Bleiben. Ich sehe auch keine offenen Rechnungen. Wären die Sudetendeutschen geblieben, wo sie waren, hätte Europa heute wahrscheinlich ein zusätzliches Minderheitenproblem. Wenn jetzt ein neuer Anlauf unternommen wird, das Verhältnis zwischen der Tschechoslowakei und Deutschland dauerhaft zu regeln, sollte sich die Landsmannschaft zurückhalten.

Ich stehe am Fenster des Hotels „Horník”, dessen welker Charme uns in den vergangenen Tagen so vertraut geworden ist. Vom vierten Stockwerk aus geht der Blick hinüber zu den bewaldeten Höhen des Ziegengesteins. Dort oben haben wir uns als Schüler oft herumgetrieben und Pläne geschmiedet. Dass wir eines Tages als fremde Besucher hierher zurückkehren würden, hat keiner geahnt.

Foto:
© privat

Info:
Aus „Gegen den Wind“ – PapyRossa Verlag Köln