Bildschirmfoto 2020 04 12 um 08.29.26„Das Interview“ zum Corona-Krisentelefon mit Prof. Dr. Ulrich Stangier

Eric Fischling

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Je länger die Kontaktbeschränkungen in der Corona-Krise dauern, desto mehr psychische Probleme in der Bevölkerung erwartet Prof. Dr. Ulrich Stangier. Mit dem Corona-Krisentelefon bietet sein Team am Zentrum für Psychotherapie der Goethe-Universität allen Menschen Hilfe an, die sich von Einsamkeit und Ängsten besonders belastet fühlen. In der hr-iNFO-Sendung „Das Interview“ zieht er eine erste Bilanz.

Ist der Preis des Shutdown zu hoch, oder kann die Gesellschaft gestärkt aus dieser Krise hervorgehen? Für Ulrich Stangier sind die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus, inklusive der verordneten Kontaktbeschränkungen, richtig. Zugleich warnt er davor, dass eine längere Phase der „sozialen Deprivation“ bei immer mehr Menschen zu starken psychischen Problemen führen kann, bis hin zu „Wahrnehmungsstörungen, Aggression und Depression“. Er sieht aber auch eine nie dagewesene Solidarität und Kreativität.

Niedrigschwellige Beratung für alle Altersgruppen

Beim Corona-Krisentelefon der Goethe-Universität ist Anonymität garantiert, es werden nur wenige Daten erhoben. Die Anrufer*innen, so Stangier, seien „zwischen 25 und 84 Jahre alt, es sind über 80 Prozent Frauen“. Die Probleme, für die Rat gesucht werde, seien vor allem Einsamkeitsgefühle und Ängste vor Ansteckung und Tod, die bei manchen Menschen „stärker sind, als sie im Augenblick rational nachvollziehbar sind“.


Zu viel oder zu wenig Wissen – beides belastet die Psyche

„Wissen ist wichtig, um auf rationale Weise mit einer Bedrohung umgehen zu können. Es ist beruhigend, zu wissen was hilft. Aber zu viel Wissen kann Stress verursachen und zu hohe Aufmerksamkeit für die Bedrohung erzeugen. Zu wenig Wissen kann dazu führen, dass die Bedrohung unkontrollierbar erscheint.“ So erklärt Ulrich Stangier auch das Aufkommen absurder Corona-Verschwörungstheorien mit dem Versuch, „etwas Komplexes und Bedrohliches auf einen einfachen Nenner zu bringen und dadurch die psychische Belastung zu reduzieren.“

Es komme auf die Relevanz der Informationen und die richtige Dosis an: „Uns werden in den Medien rund um die Uhr Zahlen angeboten, Infektionszahlen und Diskussionen, und das kann auch zuviel sein" und könnte dazu führen, „dass man einen Tunnelblick bekommt", und "wenn die Informationssuche immer extremer und exzessiver wird, können hypochondrische Ängste zunehmen, und so entsteht dann ein Teufelskreislauf“.


Rituale und Struktur

Für Stangier ist und bleibt Wissen gleichwohl eine „wichtige Ressource, mit der wir uns vor Gefahren und Bedrohungen schützen können“. Ebenso wertvoll seien Rituale. So könne etwa gemeinsames Singen und Musizieren helfen, „um nicht in einer demoralisierten Stimmung zu versinken.“ Weiterhin sei es hilfreich, dem Tag Struktur zu geben, öfter „in die Natur zu gehen, Sport zu treiben, zu Kochen und vor allem die Kontakte aufrecht zu erhalten mit Telefon und Videochats, um diese Einschränkungen zum Teil zu kompensieren“.


Die Zeit nach Corona

Die Maßnahmen seien notwendig, betont Ulrich Stangier „den Preis müssen wir zahlen. Wir hätten noch sehr viel mehr an Menschenleben zahlen müssen, wenn wir diesen Shutdown nicht vollzogen hätten. Es ist eine Lektion, aus der wir nur lernen können.“ Zwar habe die Corona-Pandemie einen „Kulturschock“ ausgelöst, der Spuren in der Gesellschaft hinterlasse, dies könne aber auch zu „sehr viel mehr Wertschätzung“ führen. Als Erkenntnis aus psychologischer Sicht deute sich eine verstärkte „Wahrnehmung von natürlichen Gefahren“ an, die man bislang unter Kontrolle zu haben glaubte. Weitere Einsichten versprocht sich Professor Stangier von der Online-Studie zum Thema „Angst vor Corona“, die derzeit an seinem Institut durchgeführt wird.

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hr-iNFO "Das Interview" mit Prof. Dr. Ulrich Stangier
 4:05, 18:35 Uhr