Bildschirmfoto 2020 04 26 um 08.46.40Queres aus der Quarantäne, Teil 10:Vom Umgang mit der Wüstenzeit 

Thorsten Latzel

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wie vermutlich für viele Menschen war Ostern für mich eine Zäsur. Vorher gab es eine kollektive Krisen-Intervention: Shut-down, Außenkontakte möglichst gegen Null, alles irgendwie anders. Danach war das Covid-19-Virus wie zu erwarten nicht einfach weg. Trotzdem gab es in mir die irreale Hoffnung, dass das Irreale wieder aufhört. Der stille Wunsch, das alles irgendwie wieder normal ist. Ein Wundermittel, eine Super-App, ein Ende der ständigen Sonder-Sendungen, in denen es doch ständig nur um ein Thema geht.

Auch wenn die Zahlen und Daten das schon vorher deutlich gezeigt haben: Nach Ostern ist die Ausnahme zur neuen Normalität geworden, auch in meinem Kopf. Die Pandemie ist da, sie ist virulent und sie wird in veränderter Form auch in einem Jahr noch unser Leben bestimmen. Die nächsten Infektions-Wellen werden kommen. Die Frage ist nicht ob, sondern wann. Und die Frage ist, wie wir lernen, in und mit der Pandemie zu leben: längerfristig, für unbestimmte Zeit. Neben der notwendigen Diskussion um verschiedene Maßnahmen, die aktuell zurecht geführt wird, geht es dabei auch um Haltung. Um die Fähigkeit, mit dem Ausnahmezustand umgehen zu können.

In früheren Generationen hat man hier von „Wüstenzeiten“ gesprochen: Lebensphasen, die herausfordernd, bedrohlich, unwirtlich sind. Krisenzeiten, in denen sich entscheidet, wer man selber ist und wohin sich eine Gesellschaft oder Gemeinschaft entwickelt (so die Bedeutung des griechischen Wortes krinein als „scheiden“, „unterscheiden“, „entscheiden“).

„Am Anfang war die Wüste.“ Es ist auffällig, dass in der Sicht des Glaubens die Wüste der Ort ist, an dem alle großen Veränderungen beginnen.

Am Anfang der Schöpfung war die Erde „wüst und leer“ (1. Mose 1,2). Im Hebräischen steht dort wörtlich „tohu wabohu“, das sprichwörtlich gewordene Chaos, das freilich nicht selbst kreativ ist, sondern an dem, so der Glaube, Gott schöpferisch handelt.

Am Anfang des Exodus, der großen Geschichte des Auszugs aus der Sklaverei, zieht das Volk Israel vierzig Jahre lang durch die Wüste. Um die Fesseln abzulegen - nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. In späteren Krisenzeiten des Volkes werden einzelne Personen immer wieder an diesen Ort des Neuanfangs zurückkehren. So wie Elia, der fanatische Gottesstreiter, der die Wüste vierzig Tage durchzieht - um Gott im zärtlichen Säuseln eines verwehenden Windes zu erfahren (1. Kön 19).

Und auch am Anfang des Evangeliums steht bei Markus die Stimme eines „Predigers in der Wüste“ (Markus 1,3) und der Geist treibt Jesus nach seiner Taufe dorthin: „und er war in der Wüste vierzig Tage und wurde versucht von dem Satan und war bei den wilden Tieren und die Engel dienten ihm.“ (1,13) Die Wüste als Ort der Verwandlung; der Konzentration auf das Wichtige; der Begegnung mit Gott und sich selbst; mit dem Satan, den wilden Tieren und den Engeln; der Versuchung und der Kunst, die Geister zu scheiden. Aus den vielen Stimmen die eine Stimme herauszuhören, die einen sicher leitet.

Doch was bedeutet es, wenn man diese geistlichen Wüstenerfahrungen früherer Generationen auf die aktuelle Situation bezieht? Ein paar unfertige Gedanken:

1. Loslassen:
Ich glaube, dass tatsächlich eine gewisse Art zu leben mit der Pandemie zu Ende geht. „Die Welt wird danach eine andere sein“ (F.W. Steinmeier) Was genau zu diesen Veränderungen gehört und wie die Welt danach sein wird, ist noch nicht klar. Und kann es auch noch nicht sein. Weil es - zumindest zum Teil - auch damit zusammenhängt, wie wir mit der Pandemie umgehen. Wie wir uns in dieser Zeit entscheiden, wer wir sein wollen und wer nicht. Ein erster, wichtiger Akt in Wüstenzeiten ist es dabei, sich von manchem Vertrautem zu verabschieden: im Bild gesprochen, von den „Fleischtöpfen Ägyptens“. Ein einfaches Zurück zum Status „ante“ wird es nicht geben. In keinem Fall. Dazu gehört m.E. etwa das Ende des Irrglaubens, dass wir in Europa, in Deutschland auf einer Insel der Seligen leben, die von den großen Nöten in anderen Teilen der Welt nicht betroffen wäre. Allen nationalen Corona-Ranking-Skalen zum Trotz: Die Welt ist viel „dorf-artiger“, als uns trotz der Rede vom global village bewusst war. Es sind eben nicht nur meine Familie, meine Nachbarn oder Mitbürger, mit denen ich mich zusammen in der Wüste befinde. Es sind auch die Menschen aus den Favelas von Rio, die schwarze Bevölkerung der Town-Ships in Johannisburg, die Wanderarbeiter aus Neu Dehli ebenso wie die Bewohner/innen von New York.

2. Streiten:
Die kurze Liste der religiösen „Wüsten-Begleiter“ in der Geschichte Jesu passt - symbolisch verstanden - auch in die Corona-Zeit: Versucher, wilde Tiere und Engel. Wir werden, je länger die Pandemie dauert, desto mehr einen „Streit der Geister“ erleben: darüber, wie die Welt und unsere Gesellschaft „danach“ gestaltet werden soll. Wer wird den Impfstoff erhalten, wenn er denn einmal gefunden ist, und zu welchem Preis? Wer wird für die astronomischen Summen aufkommen, die zurzeit ausgegeben werden? An welche Bedingungen werden etwa Zahlungen an die Auto-Industrie geknüpft im Blick auf eine nachhaltige Mobilität? Wie ist Solidarität in Europa zu gestalten? Der Streit hat gerade erst begonnen.

In der Versuchung Jesu ging es um die Verlockungen von Wunderkraft (Steine zu Brot), Unverletzlichkeit (Sprung von den Zinnen) und Weltherrschaft (Niederfallen und Anbeten). Das weist manche erstaunliche Parallelen zur Selbstinszenierung populistischer oder autoritärer Regenten in der Pandemie auf. Die eigentliche Frage ist aber, wer wir selber sein wollen. Wie wir uns in dem Streit der Geister - in uns selbst und in der Begegnung mit anderen - entscheiden. Wir müssen streiten. Unbedingt. Doch wir sollten es so tun, dass wir immer im Blick behalten, worum es dabei geht: nicht nur um Finanzen, politische Macht und den Einfluss von Ländern, sondern immer auch darum, wer wir selber sind, woran wir glauben, worauf es uns im Leben tatsächlich ankommt.

3. Sich konzentrieren:
An Stelle der Fleischtöpfe Ägyptens traten in der Geschichte Israels als wanderndem Gottesvolk „Wachteln und Manna“. Wildvögel und ein „Himmelsbrot“ (wahrscheinlich Flechten, Harze oder Sekrete auf Tamarisken), das sich markanter Weise nicht länger als einen Tag aufbewahren lässt. Auch in der Pandemie geht es darum, was „system-relevant“ ist. Was wir unbedingt brauchen. Und was in einer Zeit kollektiven Fastens auch als entbehrlich erfahren wird. Ich erlebe zum Beispiel, wie sehr mir die Menschen in der Akademie fehlen, weil sie eben mehr sind als nur Arbeitskolleg/innen, Menschen, die einfach zu meinem Leben dazugehören. Dass ich hoffe, dass der große Reichtum von Kulturveranstaltungen erhalten bleibt.

Und dass ich tatsächlich die gemeinsame Feier mit fremden Menschen in einem ganz normalen, manchmal langweiligen Sonntags-Gottesdienst vermisse. Dagegen fehlt mir persönlich gerade nicht wirklich etwas, dass wir in diesem Jahr beispielsweise noch nicht verreist sind. Das liegt auch an den langen Spaziergängen mit meiner Frau - so viel wie jetzt war ich mein Leben lang noch im Wald und im Park. Das wird bei anderen sicher anders aussehen. Die Herausforderungen im Blick auf einen zukunftsfähigen und nachhaltigen Lebensstil wird sein, was für unser Leben brauchen und worauf wir bewusst auch verzichten können. Die großen Probleme von Armutsbekämpfung, Klimakrise, Bildungsgerechtigkeit, Artenvielfalt, Meeresverschmutzung u.a. bleiben uns durch die Pandemie ja erhalten - und werden zum Teil noch verschärft. Es ist zu hoffen, dass wir in dieser Wüsten-Zeit lernen, auch mit anderen Krisen umzugehen und die richtigen „Post-Corona-Perspektiven“ entwickeln.

4. Umdenken
Die allererste Forderung, die Jesus nach seiner Wüstenerfahrung verkündet, lautet: „Kehrt um.“ (Markus 1,15) Ändert euren Sinn. Oder in alter Sprache: Tut Buße. In aktuellen Texten entspricht dem - gesellschaftspolitisch - die Forderung nach einer „großen Transformation“, exemplarisch konkretisiert in den von der UN formulierten siebzehn Zielen einer nachhaltigen Entwicklung (SDGs). Wir werden nach der Pandemie nicht zu der Welt und dem Leben vorher zurückkehren können. Und wir sollten dies auch nicht einfach wollen. Es ist für alle Betroffenen äußerst verständlich zu fragen, wann der Normalbetrieb wieder losgeht. Gerade wenn dies mit ökonomischen Existenznöten einhergeht. Als Gesellschaft insgesamt stehen wir jedoch vor der Aufgabe, zugleich unsere Art zu wirtschaften, zu konsumieren, zu leben verändern zu müssen. Ansonsten stehen wir vor noch größeren Problemen als denen der Pandemie. Die Pointe bei Jesu Aufforderung liegt darin, dass diese Veränderung nicht ein moralisches Sollen ausdrückt. Sondern dass sie einer positiven anderen Selbst-, Welt- und Gotteserfahrung entspricht. Nochmal in der Geschichte Jesu ausgedrückt: „Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen, [...].“ (1,14) Das ist vielleicht die größte Herausforderung: In der wirklich „ver-rückten“ Zeit der Pandemie so miteinander von Gott und dem eigenen Glauben zu sprechen, dass sich uns eine neue, befreiende Lebenssicht erschließt, dass sich unser Denken, Handeln, Fühlen verändert.

Das ist es, was wir als evangelische Akademie in den nächsten Monaten auf digitalem Weg versuchen werden. Auch wenn wir es wirklich schmerzlich vermissen, Ihnen und anderen Menschen in unserem Haus am Römerberg von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Das werden wir gerne gemeinsam mit Ihnen nachholen. Bis dahin arbeiten wir daran, dass sich unsere Gesellschaft, unser Demokratie, Europa hoffentlich zum Besseren entwickelt. Und wir freuen uns, wenn Sie uns dabei begleiten, helfen und unterstützen.


In der Wüste

In der Wüste
kann es geschehen,
dass am Morgen auf einmal
Brot da liegt.
Unverhofft, wie vom Himmel.
Nur Bröckchen, nichts von Dauer,
doch genug für einen Tag
und um sich zu fragen: Was war das?
In der Wüste
kann es geschehen,
dass die wilden Tiere
in mir und um mich zur Ruhe kommen.
Wie der Löwe auf alten Gemälden
friedlich schlummernd
zu Füßen des Alten
einsam versunken in seinem Buch.

In der Wüste
kann es geschehen,
dass mein kreisendes Denken
eine andere Richtung erfährt.
Wenn mitten im Chor
verzweifelt verlockender Stimmen
auf einmal Stille geschieht.
Momente verwehenden Schweigens.

In der Wüste
kann es geschehen,
dass mir selbst
ein ganz Anderer begegnet
an Orten, halb real,
in Büschen sich nicht verzehrenden Feuers,
in dessen brennender Nähe
ich selbst zu einem anderen werde.
Für andere. (TL)

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