Lena Lustig
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Das Leben in Zeiten der Pandemie hat viele tägliche Routinen verändert. Das zerrt an den Nerven aller und kann zu heftigen Gefühlsbrüchen führen – auch bei Kindern und Jugendlichen. Wut oder Ärger offen zeigen dürfen, sich nicht verstellen müssen, gehört zu den Grundpfeilern einer gelingenden Beziehung. Nicht nur in Corona-Zeiten fällt es Eltern jedoch mitunter schwer, die richtige Antwort auf die heftigen Gefühlen des Nachwuchs´ zu finden und gelassen damit umzugehen – und sich von den eigenen Gefühlen der Ohnmacht und existentiellen Sorge nicht überwältigen zu lassen.
Es ist so wichtig, daß sich Eltern damit nicht alleine fühlen und sich Hilfe holen können - oder dies kleine Interview lesen!
14 Erziehungsberatungsstellen gibt es in Frankfurt am Main. Für eine davon arbeitet Sabine Stiller. Die Erziehungsberaterin äußert sich zu Wutausbrüchen und zum Mut machen in schweren Zeiten.
Viele Eltern, die zu Ihnen kommen, haben Probleme damit, wenn ihre Kinder Zornesausbrüche haben oder ihrer Wut, ihrem Ärger, ihren Aggressionen freien Lauf lassen. Wieso?
Wenn Kinder starke negative Gefühle äußern, ist das oft ein Problem für Eltern. Wenn sie bei ihren Kindern diese Gefühle erleben, plagen sie häufig Schuldgefühle, weil sie denken, sie seien schuld daran, dass ihr Kind jetzt weint oder um sich schlägt. Sie fühlen sich dann verpflichtet, alles Mögliche zu tun, damit es wieder fröhlich ist. Ich vermute sehr stark, das hängt damit zusammen, dass Eltern sich in diesen Situationen nicht als selbstwirksam erleben. Sie haben ja oft auch keine Vorbilder dafür, wie man diese Gefühlsausbrüche gut begleitet. Ihnen fehlen dazu oft auch die Modelle. Das zieht sich übrigens durch alle Generationen.
Was heißt das genau: Eltern haben keine Modelle, mit den negativen Gefühlen ihrer Kinder klarzukommen?
Wir Menschen haben oft tief verankerte Glaubenssätze aus der Kindheit, die wir auch als Eltern immer noch in uns tragen, zum Beispiel ein Satz wie „wer so offen seine Gefühle zeigt, hat sich nicht im Griff.“ Das führt zur Verleugnung dieser Gefühle, die wiederum auch bei den eigenen Kindern nicht erwünscht sind. Aber Kinder agieren als kleine Stellvertreter für die Gefühle, die die Eltern in sich selbst unterdrücken oder nicht offen ausleben. Sie bringen sozusagen die nicht gelebte Gefühlsklaviatur auf Wiedervorlage bei den Eltern.
Was steckt hinter dieser Verleugnung der Gefühle?
Es ist die Angst, als autoritär zu erscheinen und damit die eigenen Eltern zu reproduzieren. Es ist nach wie vor ein großes Thema bei den Erwachsenen, so zu sein wie die eigenen Eltern. Andererseits haben viele Erwachsene in ihrer Kindheit die Erfahrung gemacht, dass Konflikte völlig vermieden werden mussten. Das ist natürlich auch kein Modell für den Umgang mit Streit oder Ärger.
Was hilft Eltern, gelassener mit ihren wütenden oder tobenden Kindern umzugehen?
Häufig hilft es den Eltern, im ersten Schritt sich selbst erst einmal besser zu verstehen, um dann den Kindern hilfreich zur Seite stehen zu können. So schauen wir uns zum Beispiel gemeinsam mit den Eltern an, wie sie selbst als Kind mit ihrer Wut umgegangen sind und welche Strategien sie innerhalb ihrer Familie für den Umgang mit Konflikten entwickelt haben. Und wir erkennen diese Strategie an, zum Beispiel beim Streit der Eltern auf Tauchstation zu gehen oder wegzulaufen. Aus Kindersicht ist es sinnvoll, sich auf diese Weise zu schützen. Aber als erwachsene Person im Umgang mit dem Partner oder den Kindern ist das Muster, einfach wegzurennen, nicht mehr konstruktiv.
Was bewirkt diese Intervention bei den Eltern?
Sie beginnen, das eigene Muster zu erkennen – und diese Erkenntnis führt dazu, dass sie ihre Muster langsam, langsam, langsam verändern können. Wichtig ist, dass sie erkennen, dass dieses Muster einen sinnvollen Platz hatte in ihrem Leben. Es geht ja nicht darum, ab morgen alles anders zu machen oder es anders haben zu wollen, was ohnehin nicht funktionieren würde. Denn wenn wir in Not geraten, sind wir nicht kreativ, sondern greifen auf alte Muster zurück.
Den Eltern vermitteln, dass es ok ist, dass ihre Kinder Gefühle zeigen, ist eine der zentralen Erziehungsbotschaften bei „Stark durch Erziehung“. Gilt das für Eltern umgekehrt auch?
Auf jeden Fall. Ich bin ein Fan von Authentizität. Deshalb sage ich Eltern: „Bitte nicht verstellen!“ Neulich sagte jemand in der Beratung zu mir: „Meine Tochter darf ja wütend sein, aber bitte schön freundlich. Mit Maß!“ Erleben Kinder, dass ihre Mutter oder ihr Vater wegen ihnen innerlich auf 180 sind, aber äußerlich freundlich säuseln und lächeln, ist das für Kinder zutiefst verunsichernd. Sind Eltern jetzt, in diesen Krisenzeiten, besorgt, müssen sie nicht so tun, als wäre jetzt alles ganz wunderbar. Natürlich kann man sagen: „Mir geht es heute nicht so gut“, oder „ich bin traurig, weil ...“. Aber Eltern sollten darauf achten, wie sie ihre Gefühle zeigen. Es ist wie immer: die Dosis macht´s und natürlich das Alter des Kindes. Es sollte nicht dazu kommen, dass das Kind auf die Idee kommt, es müsse den Eltern jetzt helfen. Das überfordert Kinder. Kinder brauchen Sicherheit. Und Eltern sind der Fels in der Brandung. Wenn sie bröckeln, ist der ganze Halt weg.
Das heißt, gerade jetzt ist es wichtig, dass Eltern ihren Kindern Mut machen?
In der Kindererziehung ist Mut machen immer ein großes Thema. Mut machen im Sinne von „Wir schaffen das!“ bedeutet ja nicht, alles rosa zu malen, sondern den Blick auf etwas anderes zu lenken als auf die Krise. Chancen zu sehen verleiht uns ein Stück Stabilität in der sehr instabilen Phase, in der wir uns gerade alle befinden. Mut machen – das ist wie ein Lichtblick in einem dunklen Tunnel. Im Moment weisen wir in der Erziehungsberatung auf diesen Aspekt ganz bewusst hin, denn das können wir im Moment alle gut brauchen, denn wir gehen derzeit alle durch existentiell bedrohliche Zeiten.
Mit anderen Worten: Sie machen auch den Eltern Mut?
Grundsätzlich ist es unser Anliegen, die Eltern darin zu bestärken, auf das zu schauen, was bei ihnen gut klappt und gut funktioniert. Es geht in der Regel nicht darum, die allumfassende Lösung zu finden, die alles bereinigt, denn die gibt es meist nicht. Wir machen den Eltern Mut, indem wir zum Beispiel anerkennen, dass sie gerade in einer extrem verunsichernden Situation sind. Nehmen wir zum Beispiel das Elternteil, das gerade alleinverantwortlich ist für zwei pubertierende Kinder. Ihm ist gerade die Wohnung gekündigt worden, der Job ist unsicher, die Zukunft völlig ungewiss. In der Beratung erkenne ich diese Lage zunächst einmal an und rege an, dass das Elternteil dies auch den Kindern so erklärt. Es hat ja keinen Sinn, das zu verdrängen. Aber dann gilt es, weiter zu schauen und zu fragen, „was geht stattdessen? Worum geht es jetzt wirklich? Was macht uns als Familie aus? Sind wir allein von der Krise bestimmt – oder gibt es auch etwas, das wir selbst bestimmen können?“ Im konkreten Fall hat dieses Elternteil mit den beiden Kindern zum Beispiel ein neues Ritual entwickelt – nämlich den Tisch abends schön zu decken und gemeinsam zu essen. Und dabei die Nähe zueinander zu spüren und sich gegenseitig zu unterstützen. Nicht materiell, aber emotional, seelisch. Die Hauptarbeit in der Beratung liegt fast immer darin, die Perspektive auf das Geschehen zu verändern und an der eigenen Haltung zu arbeiten.
Das heißt konkret?
Wenn das Kind Spielsachen in die Ecke wirft, schreit, nörgelt und Eltern an die Grenzen bringt, dann heißt es oft, „das Kind tut nie, was ich will, es will mich provozieren, es ist widerspenstig und trotzig.“ Beim klassischen Reframing bringen wir eine andere Deutung ins Spiel und erwidern: „Das Kind hat einen starken Willen, es sorgt dafür, dass es bekommt, was es braucht“ und fragen welches Bedürfnis steckt hinter dem Verhalten des Kindes? Braucht es eventuell mehr Begrenzung, weil der Rahmen zu groß ist, oder im Gegenteil, braucht es weniger Grenzen, weil es zu sehr eingeschränkt wird?
Wenn es „eine“ Botschaft gibt, die Sie Eltern mitgeben wollen – welche ist das?
Eltern sollten wissen: Erziehung ist vor allem eines – Beziehung. Das Wort „Erziehung“ hat immer etwas mit verinnerlichten Glaubenssätzen zu tun, die oft nicht sehr hilfreich sind. Denkt man stattdessen an Beziehung, dann denkt man an etwas Lebendiges. Sie ist das, was zwischen Menschen passiert – und damit kaum vorhersehbar.
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Quelle: Stadt Frankfurt
© t-online.de
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