Theologische Impulse 64
Thorsten Latzel
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Unsere Schlafzimmertür knarzt. Das ist ihr gutes Recht. Immerhin ist sie schon über einhundert Jahre alt. Wenn ich einmal so alt bin, werde ich auf jeden Fall auch knarzen. Habe ich mir fest vorgenommen. Bei unserer Tür nervt das Geräusch aber trotzdem. Vor allem, weil die Schlafzeiten von meiner Frau und mir stark auseinandergehen. In der Wissenschaft spricht man hier von verschiedenen Chronotypen, „Lerche“ beziehungsweise „Eule“. Das klingt ornithologisch klug, geradezu poetisch. Hilft in der Sache aber nicht wirklich weiter, da Lerchen und Eulen selten gemeinsame Schlafzimmertüren haben. Von Vorteil ist es dann schon eher, wenn man einen gesunden Tiefschlaf hat – oder, wie ich, einfach nicht so gut hört.
Das Knarzen von Schlafzimmertüren: Es gehört zu den kleinen oder großen „Störgeräuschen der anderen“ im Getriebe der Welt. Das Klackern der Kollegen mit dem Kugelschreiber im Büro, das Chipstüten-Rascheln im Kino, die Laut-Telefonierer im Zug mit den zwangskollektivierten Intimitäten: „Schatz, ich wollte bloß mal hören, was bei deinem Besuch bei der Ärztin herausgekommen ist.“ Nein, Sharing ist hier kein Caring. Von unsinnigen Erfindungen wie Laubbläsern oder Auspuff-Tuning ganz zu schweigen, vor allem in der Nachbarschaft. Noch schlimmer, weil gesundheitsgefährdend: die Belastungen durch Straßen-, Bahn- oder Fluglärm, bei denen die Mobilität der einen die Lebensqualität der anderen massiv beeinträchtigt. Es ist kein Zufall, dass Robert Gernhardt in seiner Parodie „Das elfte Gebot“ (1996) Gott die Aufforderung „Du sollst nicht lärmen!“ mit rund dreitausendjähriger Verspätung diesmal am Feldberg offenbaren lässt. Mitmenschen sind etwas Feines – solange sie einem nicht auf die Ohren gehen.
Der Krach der anderen. Es gibt verschiedene Wege, wie gegenwärtig darauf reagiert wird. Rein technisch etwa durch Active Noise Cancellation (ANC) – eine Eigenschaft von neueren Kopfhörern, bei der Schall durch spiegelbildlich erzeugte Antischallwellen in der Wahrnehmung reduziert wird (destruktive Interferenzen). Funktioniert erstaunlich gut bis zu einem gewissen Grad. Von Stille im eigentlichen Sinn ist man damit freilich immer noch weit entfernt. Der Boom von Meditations- und Achtsamkeitsübungen – eine andere Reaktionsweise auf den Lärm der Zeit – ist dafür ein Zeichen.
„Stille“ meint dabei etwas anderes als die Abwesenheit von störenden Geräuschen. Es beschreibt eine Zeit der Konzentration, einer wirklichen Begegnung: mit sich selbst, mit anderen, mit Gott. Eine Zeit, um emotional Ordnung zu schaffen, sich Ängsten zu stellen, auf die innere Stimme, das eigene Gewissen zu hören. Stille ist die Zeit zum Lesen, Denken, Beten. Auch dazu bedarf es einer gewissen äußeren Geräuschkulisse. Das Blättern der Seiten, den eigenen Puls, den Atem der anderen, das Ticken der Uhr. Wir können nicht nicht-hören. Und es ist gut, sich vor einer Verabsolutierung von Stille zu hüten. Völlige Stille als Entzug jedes Außenreizes führt als „sensorische Deprivation“ (Sinnesentzug) zur Desorientierung – und ist eine Form der Folter. Absolute Stille bietet allein der Tod. Als Menschen sind wir exzentrische Wesen, die ihre Mitte außerhalb ihrer selbst haben. Säuglinge werden gestillt, auch indem sie den Herzschlag der Mutter spüren. Wir brauchen nicht Lärm, aber den rechten Klang von außen, damit in uns selbst etwas schwingt.
Die Aufforderung „Sei ganz bei dir selbst!“, beliebt in spirituell aufgeladener Werbung, löst bei mir deswegen immer ganz unspirituelle Magenkrämpfe aus. Es lebe das religiöse Monadentum der Konsumgesellschaft: Was kümmert mich das Leid der Welt, solange ich Klangschale und Räucherstäbchen in meinem Apartment habe? Nein: Stille, wahre Stille fördert Begegnung und sensibilisiert – für mich selbst, für Gott, für andere. In der antiken Philosophie, bei den Anhängern des Pythagoras, gab es die Idee der Sphärenmusik. Eines harmonischen Zusammenklangs von Tönen, die durch die Bewegung der Himmelskörper und deren mathematisches Verhältnis zueinander entstehe. Als Menschen würden wir sie nur nicht wahrnehmen, weil sie uns die ganze Zeit umgebe. Rein physikalisch teile ich die Skepsis, die diese Theorie vor allem bei empirisch orientierten Denkern erfahren hat. Als Metapher ist sie freilich stark: dass die Welt, das Leben einen Klang hat. Dass Stille etwas mit Hören-Lernen zu tun hat. Dass es in ihr – christlich gesprochen – um einen Bezug zur Liebe Gottes geht, die als „alles bestimmende Wirklichkeit“ die ganze Welt als Schöpfung durchdringt.
In einer so verstandenen Stille ziehe ich mich zwar aus dem „Lärm der anderen“ zurück, aber gerade um den anderen, der Welt auf neue Weise zu begegnen. Und ich erfahre in ihr, dass ich den „Klang der anderen“ brauche. Damit ich mehr bin als ein von Kaufhausmusik berieselter Konsument, mehr als ein durch Kopfhörer abgeschotteter Eremit neben anderen, mehr als die Quelle der Lärmbelästigung für meinen Nachbarn. Stille, so verstanden, ist eine Zeit, in der ich mich darin übe, etwas zum Klang, nicht zum Krach im Leben meiner Mitmenschen beizutragen. Mit Worten und Taten, die aus der Stille kommen und der Stille des anderen dienen.
Vor Kurzem habe ich übrigens gemeinsam mit meiner Frau unsere Schlafzimmertür gefettet und geölt. Beide Türzapfen, mehrmals, intensiv. Jetzt knarzt sie fast überhaupt nicht mehr. Nur noch auf den entscheidenden letzten Zentimetern, kurz vorm Schließen. Das dafür aber ziemlich verlässlich. Weil dann ihre Holzverankerung in der Türzarge arbeitet. So viel Eigensinnigkeit nötigt schon wieder Respekt ab. „Ach, weißt du“, meinte meine Frau nach dem gefühlt siebenunddreißigsten Versuch, „irgendwie mag ich das Geräusch von der Tür ja auch. Das hat so etwas Vertrautes.“ Es erinnert ein bisschen an die lose Fliese in der Küche in einer unserer früheren Wohnungen, kurz vor der Treppe in den Keller, die immer so hübsch geklackert hat, wenn jemand draufgetreten ist. Aber das ist eine andere Geschichte.
Foto:
© Thorsten Latzel
Info:
Dr. Thorsten Latzel ist Pfarrer und Studienleiter für Theologie & Kirche in Frankfurt
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www.glauben-denken.de
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Von knarzenden Schlafzimmertüren und den Störgeräuschen der anderen
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- Kategorie: Lust und Leben