Thorsten Latzel
Liebe Leserin, lieber Leser, gestatten Sie mir eine indiskrete Frage: Wovor haben Sie eigentlich Angst?
Vor Spinnen, Schlangen, Ratten, Flöhen.
Vor engen Räumen, schwindelnden Höhen.
Fett, alt, arm und krank zu werden.
Einsam sterben, mit nichts zum Vererben.
Den Job verlieren, abzuschmieren,
jämmerlich im Dreck krepieren.
Vor Muslimen, Juden, Homos, Fremden:
„Unser Land in dunklen Händen!“
Vor Dicken, Alten, Schwarzen, Andern,
„den vielen, die uns unterwandern“.
Vor Ossis, Oldies, Offenbachern.
Vor Gauland, Höcke, Panikmachern.
Im Stau und in der Schlange stehen,
während alle andern fahren und gehen.
Verarscht zu werden, ohne zu wissen, vom wem,
am Ende vom ganzen, korrupten System.
Vor Apparaten, Ärzten, Schmerzen, Spritzen,
am Krankenbett der anderen sitzen.
Vorm Autofahren, Flugzeug fliegen,
im Fahrstuhl keine Luft zu kriegen.
Vor Dunkelheit und Einsamkeit,
vor Stillstand, Ruhe, Gebrechlichkeit.
Keine Luft zu kriegen, Tunnelblick,
Händeschweiß, nervöser Tick.
Würgen, Schwitzen, Zittern, Zucken,
Schwindeln, Stottern, Blinzeln, Jucken.
Rote Flecken an allen Backen,
Herzrasen bis zu Panikattacken.
Vielleicht sind Sie auch „nomo-phob“? Die große Angst der Menschen unter 30. Dass die Welt untergeht, ist ja schon blöd. Irgendwie. Aber stellen Sie sich vor: Ihr Akku geht dabei leer und Sie können das nicht mal irgendwem posten? „No-Mobile-Phobie“: der horror vacui in der linken Hand.
Oder sind wir möglicherweise alle zusammen „phobo-phob“? Haben wir Angst vor der Angst? Die Menschen in der flüssigen Moderne: kurz vor dem kollektiven Burn-out, eine hormonell übersäuerte Gesellschaft, rund sieben, acht Milliarden, Tendenz steigend. Im Dauerstress, beim großen Wandeln von Globalisierung und Digitalisierung irgendwie nicht mitzukommen. Und in der Gefahr, dass wir wie Lemminge kollektiv auf den ökologischen Kollaps zulaufen. Die Corona-Pandemie hat noch einmal das ihre zu einer Angst-Kultur beigetragen: zu real sehr begründeten Ängsten wie verschwörungstheoretisch sehr wirren. Und dann kommt uns bei all unseren Planungen ständig noch dieses eigenartige Kontingenz-Phänomen namens „LEBEN“ dazwischen - und bringt unsere selbst-optimierten To-do-Listen vollends durcheinander. Das alles führt zu einer Angst zweiter Ordnung: „Phobo-Phobie“. Die Unfähigkeit, mit den ganz normalen menschlichen Existenz-Ängsten umzugehen.
Nun, wenn Ihnen das eine oder andere Gefühl bekannt sein sollte, dann sind Sie in guter Gesellschaft. Manchmal hat man als Mensch Angst. Das ist normal. In Zeiten von Corona umso mehr. Seit über einem halben Jahr sehen wir ständig Statistiken von Infizierten und Toten. Die Dauerdiskussion über Verbote, soziale Probleme und unvorstellbare Schuldensummen lassen wohl keinen unberührt. Erst recht nicht die Bilder von leidenden Menschen, Umweltzerstörung oder Katastrophen. Doch wie geht man damit um, wenn einen die Angst packt, wenn die Sorgen im Kopf zu kreisen beginnen und das eigene Herz verkrampft? Bei sich selbst oder bei Menschen, die einem nahestehen?
In 2017 und 2018 fanden zwei besondere Veranstaltungen der Evangelischen Akademie Frankfurt statt mit dem Titel „Im Spiegel der Angst“. Anlass war eine Auftragskomposition der EKHN mit dem gleichnamigen Titel, in der sich der zeitgenössische Komponist Gerhard Müller-Hornbach im Reformationsjahr kreativ-kritisch mit Luthers Umgang mit seinen Ängsten auseinandergesetzt hat. Hier mein kleines persönliches „Best-Of“ aus den theologischen, philosophischen, psychologischen und literarischen Beiträgen zum Thema.
1. Keine Angst vor der Angst.
Es ist normal, Angst zu haben. Sie ist eine gesunde Reaktion und Warnfunktion der Seele. Evolutionär erworben. Wenn man früher einem Säbelzahn-Tiger auf dem Weg begegnete, war sie geradezu überlebenswichtig. Die Angstfreien sind damals recht bald ausgestorben. Angst gehört elementar zur menschlichen Existenz. Wichtig ist es aber, sich nicht von ihr bestimmen zu lassen. Als Richtschnur und Ratgeber für das eigene Leben taugt sie in aller Regel nicht. Etwa, wenn ich heute getigerten Katzen auf der Straße begegne. Die eigenen Ängste vor dem Leben und Sterben annehmen - sich aber nicht von ihnen bestimmen lassen - und ihnen so den Säbelzahn ziehen: darum geht es letztlich auch im Glauben: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Joh 16,33)
2. „Man sich muss von der eigenen Angst ja nicht alles bieten lassen.“ (V.E. Frankl)
Auch wenn wir Angst haben, sollte die Angst nicht uns haben. Zum Wesen der Angst gehört, dass sie einen unfrei macht. Sie verengt den Blick, raubt einem Handlungsmöglichkeiten, schnürt einem den Magen zu. Das hilft beim Wegsprinten vor prähistorischen Wildkatzen. Ist aber wenig hilfreich bei den Ängsten im Alltag. Sie rauben einem Freiheit und fressen sprichwörtlich „die Seele auf“ (R.W. Fassbinder). Das alles sollte man den eigenen Ängsten nicht durchgehen lassen. Eine der wichtigsten Konjunktionen in den biblischen Überlieferungen ist deshalb das kleine Wörtchen „dennoch“. In ihr drückt sich die tiefe, innere Freiheit aus, mich nicht von meinen äußeren Umständen oder eigenen Emotionen bestimmen zu lassen. Durchatmen - den Blick heben - anders handeln. Den eigenen Ängsten zum Trotz.
3. Manchmal helfen Bücher, Hunde, Lachen, Tanzen - und vor allem gute Freunde.
So verschieden wie die persönlichen Ängste ist auch das, was Menschen hilft, mit ihnen umzugehen.
Manchmal helfen mir kluge Gedanken oder Geschichten von anderen, um rationale Ordnung in mein emotionales Chaos zu bringen. Nicht umsonst ist die Weisheit (griech. sophia) auch sprachlich ein Gegenstück zur Angst (griech. phobia). Von Kierkegaard etwa stammt die, wie ich finde, hilfreiche Unterscheidung von Furcht, die sich auf ein konkretes Gegenüber bezieht („ich fürchte ...“), und Angst, die ihrem Wesen nach unbestimmt ist. Das macht sie nicht kleiner, ordnet sie aber ein.
Von einem liebevollen Umgang mit den Ängsten anderer handelt etwa der Roman „Erste Hilfe“ von Mariana Leky (2004). In ihm begleiten eine junge Frau, Aushilfskraft in einem Kleintierladen, und ihr Nicht-mehr-oder-doch-noch-Geliebter und Mitbewohner Sylvester ihrer Nachbarin Mathilda, die Angst hat, vor lauter Angst verrückt zu werden. Und lernen dabei, letztlich mit ihren eigenen Gespenstern umzugehen. „Werde wach und stärke das andere, das sterben will.“ (Offb. 3,2) Es ist vielleicht eine der größten Gottesgaben, wenn ich einem anderen Menschen in seiner Seelen-Nacht beistehen kann - und andere mir.
4. Der beste Zustand einer Gesellschaft ist der, „in dem man ohne Angst verschieden sein kann.“ (Th.W. Adorno)
Wie wichtig unsere Kompetenz im Umgang mit den wechselseitigen Ängsten ist, zeigt sich gerade in der aktuellen Pandemie. Sie wirkt wie ein Katalysator des Guten wie des Schlechten. Ein Aufflackern von krudesten, oftmals antisemitischen Verschwörungstheorien einerseits und ein Aufscheinen von beeindruckenden Akten solidarischer Fürsorge für Schwache und Hilfsbedürftige andererseits. Die Pandemie betrifft trotz großer sozialer Unterschiede alle Menschen, weltweit. Sie kann - im guten Fall - dazu beitragen, dass wir uns nicht in einem nationalen Corona-Ranking-Wettkampf erleben, sondern in einer echten Leidensgemeinschaft miteinander. Sie kann - im guten Fall - dazu beitragen, dass wir uns mehr „um einander“ als „vor einander“ ängstigen. Doch das hängt davon ab, wie wir mit der Pandemie und mit unseren Ängsten umgehen. Die aktuelle humanitäre Katastrophe in Moria ist leider ein schreckliches Beispiel dafür, wie es nicht sein sollte. Im „Spiegel der (eigenen) Angst“ zeigt sich, wer wir selber sind. Dabei geht es nicht darum, frei von Angst zu sein, sondern darum, trotz unserer Angst frei für einander da zu sein. Oder anders gesagt: jeden Mitmenschen so zu behandeln, als ginge es um uns selbst (Mt 7,12).
Foto:
© geir fløde auf www.pixabay.com
Info:
Dr. Thorsten Latzel ist Pfarrer und Studienleiter für Theologie & Kirche in Frankfurt
Weitere Texte finden Sie unter:
www.glauben-denken.de
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