ÜBER DIE BRÜCKE IN DOLLDORF ... geht’s auch nach Afrika, Teil 1

Klaus Jürgen Schmidt

Nienburg/Weser (Weltexpresso) – 1983: Das Haus Dolldorf 27 steht zum Verkauf. So einsam, überpudert mit Watte aus Schnee, wir sind hingerissen und entscheiden uns innerhalb von vierundzwanzig Stunden, ohne langes Feilschen.



Der spontane Entschluss verschuldet uns für die nächsten 25 Jahre, aber ich bleibe standhaft, wenn uns später in Afrika immer 'mal wieder der Rat erreicht, angesichts nicht endend wollender Hiobsbotschaften von Mieter-Katastrophen das Objekt zu verkaufen.

Als die große Reise nach Afrika noch gar nicht auf der Agenda stand, hatte schon ein Freund im Sender prophezeit: Das hältst du nicht ein Jahr aus. Das wollen wir 'mal sehen! (Es wurden dann doch zwei Jahre!)

                                        
                              >Erbaut im Kriegsjahr 1940 von Edmund Horst u. Frau Anna geb. Binder<

Die Schrift ist in den Gründerbalken geschnitzt, der irgendeinmal Nachbesitzern, vermutlich bei Ausbauarbeiten, als Träger beim Einsetzen eines Kellertürchens im feldsteinumfassten Innenhof diente. „Im Kriegsjahr 1940“ – wie mutig müssen Edmund und Anna Horst gewesen sein, sich mitten in Kriegswirren ein Häuschen zu bauen, das auf alten Fotos gerade 'mal etwas katenhaftes hat. Fachwerk und Feldstein-Mauern, ja – das lieben wir heute, ein Brunnen im Keller, eine offene Feuerstelle, ein Abort mit Sickergrube. Elektrischer Strom?

Natürlich ist heutzutage alles auf neuesten Stand gebracht, niedersächsische Wirtschaftsförderungs-Maßnahmen lassen nichts aus, um uns dem Standard bundesdeutschen Wohnkomforts anzupassen – und dafür zahlen zu lassen: unter den Weiden herangelegte Stromleitung löste Freiluft-Kabel ab, Trinkwasser-Anschluss durch ein ebenfalls unter der Erde herangetriebenes Plastikrohr, computer-lesbare Mülltonne, normgerechte Kleinkläranlage mit Pflanzenbeet, und schließlich noch die vom Rathaus der Samtgemeinde in Marklohe erzwungene Einführung neuer Straßennamen! Aus „Dolldorf 27“ wird „Alter Schulweg 5“.

Aber vor dem Eingang, verborgen hinter Rhododendron-Büschen, bleibt dem Haus ein Erbe aus der Nachkriegszeit, aus einer Zeit also, da es einem Gemeindedirektor noch möglich war, sich über Normen hinwegzusetzen, um einer Familie einen Herzenswunsch zu erfüllen. Kürzlich sah ich im Fernsehen einen Beitrag über einen neuen deutschen Bürokratenstreit: Waldbesitzer haben sich eine neue Einnahme-Quelle ausgedacht – und liegen darüber prompt mit den Verwaltungen von Kommunen und Kirchen über Kreuz. Die beharren darauf, dass der leibliche Abgang von dieser Welt ordentlich auf einem Friedhof endet. Dagegen steht die neue Idee, sich noch vor dem Abgang selber das Wurzelwerk eines Patenbaumes in einem „Friedwald“ als letzte Ruhestätte einer biologisch abbaubaren Urne auszusuchen. Neue Idee? Wir haben einen solchen Friedwald auf dem Grundstück.

Die Urnen von Herrn und Frau Sievers, Nachfolger von Edmund Horst und Frau Anne als Hauseigentümer, ruhen unter einem Feldstein hinter den Rhododendron-Büschen. Der Bestattungsunternehmer kam seinerzeit mit einer der Urnen in der Hand auf winterlichem Eis am Hang in's Rutschen. Der Deckel saß nicht fest. Der Sohn – so erzählte er es mir, als er eines Tages unangekündigt mit seinem Moped zu einer Visite am Stein hinter den Rhododendron-Büschen herunterrollte – kehrte am Hang die Asche zusammen.

Ein bisschen Ordnung musste sein. Man wirft keine Dosen weg im Wald. Ich spreche nicht mehr von vollen Urnen, sondern von leeren Dosen. Als in Deutschland das Dosenpfand noch nicht eingeführt war, traf ich bei meinen Erkundungsgängen im Dolldorfer Umland allenthalben auf diese bunten, oft zerknautschten Getränke-Container. Auf dem Weg zum nahen Kurbad Blenhorst sammelte ich einmal an einer Bus-Haltestelle aus einem Waldstück 31 solcher Dosen. Dass mir dieser Zivilisationsabfall einmal positiv auffallen würde, habe ich dem Brückenschlag meiner afrikanischen Medienorganisation zu verdanken, die zur Weltausstellung „EXPO 2000“ nach Hannover eingeladen worden war. Das machte zugleich die Rückkehr nach Dolldorf erforderlich. Die Plakette, die ich oben an's Tor schraubte, und die das Haus am Hang nun als vorübergehende Zentrale eines „Weltweiten Projekts“ der EXPO auswies, hat irgendein Lump geklaut ... vermutlich einer, der auch leere Dosen in den Wald schmeißt.

In der Afrika-Halle der EXPO bauten wir die Präsentation des Projektes „Global Village Voices“ von Radio Bridge Overseas in den Nationen-Stand von Zimbabwe ein. Gegenüber entstand am Lesotho-Stand ein merkwürdiges Gebilde, das im Internet so beschrieben ist: Der aus Stuttgart stammende Michael Hönes lebt in Afrika und baut Möbel und Häuser aus Dosen. Er motiviert den Betrachter zu anderen Wahrnehmung und zum Sprung in eine andere Welt. Er baut Vorurteile ab. Die Dose lebt in allen globalen Ebenen und Schichten und sie verkörpert den Gegensatz von Nutzen und Abfall. Es gibt keine vollen Dosen ohne leere Dosen. Der Schlafende sieht allerdings nur die vollen Dosen, der Wache hingegen sieht die vollen und die leeren Dosen. Hönes sagt, seine Arbeit soll helfen, Schlafende aufzuwecken. Es werden jene sein, welche die zukünftigen Wege bereiten und Brücken bauen, um jeder Person die positive Erfahrung des Gegensatzes zu ermöglichen. Gegensätze wie ökonomisch-ökologisch, hell-dunkel, voll-leer, arm-reich sind ein Teil des Lebens und der Betrachter identifiziert sich immer zuerst mit dem ihm Vertrauten. Der Betrachter in Europa identifiziert sich mit: ökologisch, hell, voll, reich. Der Betrachter in Afrika identifiziert sich mit: ökonomisch, dunkel, leer, arm. Europa – Afrika. Ein ideales Bild des Gegensatzes und doch ein Ganzes. (http://www.lesotho-tours.de/indexDosenKunst.html)

Die kleine Brücke oberhalb unseres Häuschens verbindet uns mit der Welt, eine Brücke von Süd nach Nord, oder umgekehrt. Als er noch durfte, war sie für Bauer Möhring der kürzeste Weg zu seinem Feld. Wir erreichen darüber die Strasse von Blenhorst nach Nienburg an der Weser, wo es den nächsten Bahnhof gibt.

Nach der deutschen Vereinigung gab es viele tausend Kilometer verrotteter Eisenbahnlinien, vor allem in der ehemaligen DDR, und vermutlich ein paar Millionen von Eisenbahnschwellen, die dort auszuwechseln waren. Südlich der kleinen Brücke in Dolldorf, nicht dort, wo sich 'mal gerade 200 Schritte entfernt unser Häuschen an den Hang duckt, sondern ungefähr 10.000 Kilometer hinter'm Horizont, wäre es seinerzeit beinahe zur Vermittlung eines Exports deutscher Eisenbahnschwellen nach Afrika gekommen.


Ein Autor von Radio Bridge Overseas hatte zusammen mit jungen Journalisten-Kollegen aus Deutschland eine hübsche Radio-Geschichte produziert, die Erfolgsstory pfiffiger Unternehmer im zimbabweschen Harare, die aus dem Tropenholz afrikanischer „railway sleepers“, also aus Eisenbahn-Schwellen, exotisch-massive Möbel zum gewiss nicht billigen Verkauf in die Nordwelt herstellten. Ihr in der ganzen Region aufgekaufter Vorrat von Teak-Schwellen aufgegebener Bahnstrecken ging gerade zu Ende. ... Da erzählte ich Geschäftsleuten bei einem G&T (tropischer Sundowner = Gin & Tonic beim Sonnenuntergang), die (damals noch so genannte) Deutsche Bundesbahn hätte in der Ex-DDR tausende von Kilometern Eisenbahnlinien zu erneuern, die seit Kaiser Wilhelms Zeiten dort nie ausgewechselt worden seien. G&T beflügelte den folgenden Kurzschluss: Kaiser Wilhelm = deutsche Kolonialzeit = Eisenbahnschwellen aus afrikanischen Kolonien für die deutsche Reichsbahn = knapp 100 Jahre später Rücktransport des tropischen Holzes aus Deutschland nach Afrika = Veredelung in exotisch-massive Möbel = Re-Export aus Afrika nach Europa! Eine phantastische Gedanken-Brücke, zumal jedes Stück Möbel mit dem zutreffenden Zertifikat zu versehen wäre, massives afrikanisches Tropenholz zu sein, aber nicht geraubt aus lebenden Tropenwäldern! Und welche Symbolik! Beflügelt von dieser Symbolik, vielleicht auch noch ein bisschen vom G&T, ließ ich mich darauf ein, dem Chef der Deutschen Bundesbahn von der Interessenlage afrikanischer Möbel-Hersteller zu berichten, die bereit wären, für den Holzrücktransport von Deutschland nach Afrika umgehend Frachtschiffe zu chartern.

Pech im Wortsinne enthielt dann der Antwortbrief: Nix mit verwittertem Tropenholz! Gift war das, was da unter den Schienen gelegen hatte, teergetränkt mit dioxin-haltigen Zusätzen aus 40 Jahren Chemie-Gebräu in DDR-Kombinaten! Beim nächsten Vermittlungsangebot durch jemanden mit guten Beziehungen zu Ex-DDR-Funktionären ließ ich dann alle Alarmglocken schrillen: auf Simbabwes Straßen sollte eine qualmende Trabi-Flotte rollen. ... Es gibt auch Brücken, die in Sackgassen führen.

Fotos:
© Klaus Jürgen Schmidt