Eine Eigenerfahrung

Klaus Jürgen Schmidt

Nienburg/Weser (Weltexpresso) – Ich war Diktator, für zwei Stunden, dann wurde ich besiegt. Dem Volk war es gelungen, sich zu vereinen. Meinen Lakaien ging es, einem nach dem anderen, an den Kragen. Zum Schluss auch mir. Dabei hatte ich genau hören können, was sie planten, aber ich hatte kein Würfelglück. ...
Wenn Familie zusammenkommt, um in Pandemie-Zeiten zu feiern, will das sorgfältig geplant sein. Wer kocht wann was und womit? Wie sind die unendlich langen Stunden in der einen Wohnung zu überstehen? Aufgaben waren verteilt, bedurften dann doch der einen oder anderen Anpassung. Und jeder hatte ein Spiel mitzubringen.

Da hatte es einmal in Bremen eine „Arbeitsstelle für Neue Spiele“ gegeben. Einen der Gründer hatte ich einmal kennengelernt: Hajo Bücken.

Ich glaube nicht, dass ich in einer „wissenschaftlich fundierten“ Enzyklopädie etwas über ihn finden würde, bei der "Graswurzel"-orientierten WIKIPEDIA schon:

„Bücken wuchs in Aachen auf und absolvierte nach Schulbesuch und Bundeswehrdienst ab 1965 ein Volontariat bei der dortigen Volkszeitung. Er erhielt eine Stelle als Journalist beim Herder Verlag in Freiburg und arbeitete dort 1968 sowohl als Redakteur der Zeitung Kontraste als auch als Sozialarbeiter im Haus der Jugend. 1973 holte er das Abitur auf dem 2. Bildungsweg nach und studierte auf Lehramt in Göttingen. Die Staatsprüfung als Hauptschullehrer für Deutsch, Kunst und Politik bestand er 1978. Es schloss sich eine Tätigkeit in der Werbebranche und eine Fortbildung zum Spielpädagogen an.

1981 gründete Bücken in Bremen die Arbeitsstelle Neues Spielen und begann seine Tätigkeit als Spiele-Erfinder. Neben mehreren Büchern zum Thema Spiel erlangte vor allem sein 1983 erstmals veröffentlichtes Kooperationsspiel Bärenspiel große Aufmerksamkeit und erschien auf der Auswahlliste zum Spiel des Jahres. Dieses Spiel erreichte 1992 eine verkaufte Auflage von über 100.000 Exemplaren. Zweimal erhielt er für seine Spiele die Essener Feder für die beste Spielanleitung des Jahres. Bücken gehört zu den zwölf Gründungsmitgliedern der Spieleautoren-Zunft und wurde im Gründungsjahr 1991 deren erster Vorsitzender. Sein 2003 erschienenes Spiel Schnelle Welle wurde für das Kinderspiel des Jahres 2004 nominiert.“

Und leider ist er am 30. Dezember 2016 in Berlin gestorben.

Aus seiner Bremer Werkstatt hatte ich zu Hause die Papprolle mit dem Spiel entdeckt, das vor mehr als vierzig Jahren in der politisch aufgemischten Szene Bremens populär war. Jetzt sollte es uns einen Abend verkürzen. Als gewählter Diktator durfte ich – laut Spielanleitung – alle Gespräche meiner Mitspieler mithören (Geheimdienst?) und hätte so meine Lakaien in Abwehrposition bringen können – wenn dabei immer der Würfel (Wechselnde Marktinteressen?) kooperativ gewesen wäre.

Woran mag es gelegen haben, dass das Spiel nicht so richtig in Gang kam?

Im Internet fand ich später die einzige noch auf dieses „Diktator“-Spiel eingehende Seite. Zwei Studierende aus Aachen hatten von 1999 bis 2017 eine Sammlung von weit über 5000 Testberichten zu Brettspielen aus dem In- und Ausland angelegt. Sie wurden von Andreas Keirat und Claudia Schlee in Zusammenarbeit mit vielen freiwilligen Testern ausführlich gespielt und bewertet.
Ihr „Diktator“-Kommentar:

„Das Spiel hört sich zwar interessant an, hat aber seine Schwächen. Da die Teamspieler sich zunächst nur langsam bewegen können, kann der Diktator die Schlüsselstellen schnell besetzen und es den Mitspielern erschweren, schlagfähige Türme zu bauen. Ihre Zugweite ist permanent festgelegt, wodurch sich der Diktator auf ihre Züge einstellen kann. Er selbst nutzt dagegen den Würfel und ist flexibler bei Angriffen. Fazit: Ein in unseren Augen nicht ausgereiftes Gesellschaftsspiel. Wertung. Mit 2 Punkten fiel das Spiel in unseren Testrunden durch. Der Diktator hat zu viele Möglichkeiten und kann nur durch sehr viel Glück in Bedrängnis gebracht werden.“

Hm! „Der Diktator hat zu viele Möglichkeiten und kann nur durch sehr viel Glück in Bedrängnis gebracht werden“???

Weshalb habe ich dann als Diktator an jenem Abend verloren?

Mein „Geheimdienst“ enthüllte beim Abhören der Gegner deren Erfolgsrezept: Es hatte bei ihnen zu viele Mitläufer gegeben, die sich bereitwillig einem neuen, strategischen Denker aus ihren Reihen unterworfen hatten. Hätten wir noch einmal gespielt: Dieser Diktator hätte nicht verloren.

Fotos:
© United Artists / KJS

Info:
http://ftp.informatik.rwth-aachen.de/keirat/txt/D/Diktator.html