Sabbatical für die Menschheit
Yves Kugelmann
Basel (Weltexpresso) - Tu Bischwat markiert im jüdischen Kalender das Ende der Regenzeit und den Beginn der Pflanzenzeit. Mit Tu Bischwat endet die dreijährige Schutzperiode bei neugepflanzten Bäumen, deren Früchte erst danach gepflückt werden dürfen. Das Jahr 5781 ist ein Schmittajahr – ein Ruhejahr für Ackerland. Die jüdischen Quellen und ein Großteil von Ge- und Verboten formulieren einen ethischen Umgang mit der Natur, die der totalen Entkoppelung moderner Gesellschaften weitgehend entgegensteht.
Das Diktum im ersten Buch Mose «Mach Dir die Natur untertan» wurde in der aufkommenden Moderne so oft und falsch verstanden basiert auf einer fehlgeleiteten Übersetzung der lutheranischen Bibel. Das hebräische Original meint die Aufforderung, Kulturland zu schaffen – Mensch und Tier zu ernähren. Doch ist es nicht der Übersetzungsfehler, der die ökologische Katstrophe begründet, in der der Mensch einen grossen Anteil hat. Vernunft, Demokratie, Rechtstaatlichkeit und somit das säkulare Gesetz sind nicht Gott- sondern Vernunftgegeben.
Die Vernunft als Grundlage der liberalen und damit offenen Gesellschaft. Und so wird die Pandemie der Gegenwart nicht nur existentielle Herausforderung für die moderne Gesellschaft, sondern geradezu zum Symbol der Notbremse in einer überforderten, überreizten, überanstrengten Welt – mit ihrem selbstzerstörerischen Wachstumsprimat. Die Natur hat ihre eigene Antwort gefunden und den Menschen im Schmittajahr die Pause, die Einkehr, die Zurücknahme aufoktroyiert. Die Pandemie wird zum Sabbatjahr für die Menschheit und vielleicht zum Jahr der Erkenntnis für Gesellschaft und Politik, die Eskalation zivilisatorischen Lebens gegen die Natur radikal zu stoppen, bevor dem Planeten regelrecht die Luft ausgeht.
«Mach Dir den Menschen untertan» wird zur Realität einer Schöpfung, die sich immer wieder wehrt und wehren muss gegen die überbordeten Eingriffe der Menschen gegen Natur, Klima und Ökologie, da Naturkatstrophen, Artensterben, Wasser- und Ressourcenmangel nur bedrohende äussere Beispiele eines inneren Zerfalls sind. Tu Bischwat rückt den Menschen wieder in die Nähe der Natur, aus der er sich zu lange ausgeklinkt und entwurzelt gelebt hat. Mit diesem Bewusstsein, müssen gerade jene Gesellschaften, die sich auf Schöpfungsgeschichte berufen wollen, eine säkulare Ethik im Umgang mit dem Planeten finden.
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TU BISCHWAT 5781
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 27.1. 2021
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG