Theologische Impulse (96)
Thorsten Latzel
Rheinland (Weltexpresso) - Meine erste Erfahrung, als ich zum Präses gewählt wurde, war: Auf einmal stellen mir Menschen viele Fragen. Ich hatte den Blumenstrauß noch nicht aus der Hand, da war ich schon mitten drin in mehreren Pressegesprächen.
„Herr Latzel, wie sieht die Zukunft der Kirche aus?
Was sagen Sie zum assistierten Suizid?
Wie beurteilen Sie die Corona-Schutzmaßnahmen der Politik?“
Nun ist es natürlich für das eigene Ego schön, im wahrsten Sinne des Wortes eine „gefragte Person“ zu sein. Man muss sich nur davor hüten, zu meinen, immer auf alles eine Antwort haben zu wollen.
- Die Zukunft zu kennen, ist per se Sache Gottes.
- Auch als Präses weiß ich nicht mehr über Corona als andere Bürger/innen.
- Zur komplexen Frage eines assistierten Suizids haben wir allerdings theologisch tatsächlich etwas beizutragen.
Was mich aber seit meiner Wahl zunehmend verwundert, ist, wonach ich nicht gefragt werde. Nach Gott. Das kann man verschieden interpretieren. Vielleicht wissen die Leute schon alles von Gott. Das wäre toll, denn dann hätte ich selbst noch ein paar Fragen. Oder wir haben aktuell schlicht drängendere Probleme. Frei nach Woody Allen. Ob es Gott gibt oder nicht, ist das eine. Aber versuch mal, vor dem Urlaub noch einen Impftermin zu bekommen. Oder die Frage hat sich für viele erledigt – einfach, weil sie als unbeantwortbar gilt. Nix Genaues weiß man nicht. Irgendwann hat es dann bei mir Klick gemacht: Meine vornehmste Aufgabe als Präses wie als Christ ist es nicht, die Frage nach Gott zu beantworten, sondern sie überhaupt zu stellen. Wo ist Gott? Als Grund, Ziel, Licht der Welt. Als Horizont, dass ich selbst anders leben kann. So, dass es für die anderen Fragen nach Zukunft, Pandemie, wie wir leben und sterben eine Rolle spielt.
Ich lese Verse aus 2. Mose 13, 21f.:
Und Gott, der HERR zog vor dem Volk her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten. Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.
Ein starkes Bild: Das Volk Israel zieht durch die Wüste und Gott geht vor ihm her in Wolken- und Feuersäule. Es beschreibt eine tiefe Glaubenserfahrung Israels, an der wir als Christinnen und Christen Anteil haben. Für die Frage „Wo ist Gott?“ finden sich hier verschiedene Hinweise.
1. Gott ist gegenwärtig und zugleich unverfügbar. Ein Leuchten, das in einer Wolke verhüllt ist. Ich habe Gott nie, sondern lebe in seiner verborgenen Gegenwart.
2. Gott ist das, was mir Kraft und Orientierung gibt. Ein Feuer. Eine Säule, die vor mir herzieht.
3. Gott bewegt mich, gemeinsam mit anderen durch die Wüste zu ziehen. Hin zu einem neuen Leben, zum verheißenen Land. Ich erfahre Gott, indem ich so von ihm bewegt werde. Indem er mein Denken, Handeln, Wachen, Schlafen, mich selbst ganz bestimmt. Das meint: bei Tag und Nacht zu wandern.
Was heißt das nun für die vielen anderen Fragen, die Sie, die mich beschäftigen, vor denen wir gemeinsam stehen?
Zunächst die Sache mit der Zukunft: Wir wissen letztlich nicht, wie sie aussehen wird. Weder für die Kirche noch für die Gesellschaft, noch für uns selbst. Da ist Gott vor. Und die Pandemie hat uns hier noch einmal neu Bescheidenheit gelehrt. Was aber nicht heißt, dass wir keine Orientierung haben. Unsere Aufgabe ist es, aus der unverfügbaren Nähe Gottes zu leben, uns selbst in seinem verborgenen Licht zu sehen, uns von Gott als allumfassendem Liebesgeschehen bewegen zu lassen. Wo das hinführen wird, wissen wir nicht. Das ist Gottes Sache. Unsere Aufgabe als Kirche ist es daher auch nicht, Gott zu Menschen zu bringen oder Antworten auf alle Fragen zu haben. Unsere Aufgabe ist es, nach Gott zu fragen, sein verborgenes Leuchten im Leben der anderen zu entdecken. Oder, wie es in dem Perspektiv-Text der rheinischen Kirche heißt: Wir sind „Lobbyisten der Gottoffenheit“.
Gottes unverfügbare Gegenwart ändert dann auch unseren Umgang mit den Fragen am Lebensende, beim Sterben. Dem eigenen wie dem der Menschen, die uns nahestehen. Wir nehmen wahr, was Menschen brauchen. In jeder Zeit des Lebens. Gerade auch in der letzten Lebensphase, im Sterben. Und es ist gut, dass wir in der Kirche stellvertretend eine Diskussion führen, die wir als Gesellschaft insgesamt brauchen. Wir verkürzen die Frage nicht auf die des assistierten Suizids. Weil es hier um mehr geht. Wir helfen anderen im Sterben. Und wir respektieren es, wenn sie sich anders als wir entscheiden. Aber wir bieten keine Angebote, dem Leben selbst ein Ende zu setzen.
Und schließlich die Sache mit der Corona-Politik. Ja, hier sind Fehler passiert, haben manche Menschen Dinge ausgenutzt, würde man heute manches anders machen. Im Horizont der Liebe Gottes stellen sich mir aber ganz andere Fragen: Verhalten wir uns so, dass wir nur gemeinsam durch diese Wüste kommen – mit allen Menschen, weltweit? Lebe ich so, wie ich es mir von anderen in der Pandemie erwünsche? Und wo bin ich selbst bereit, für andere Verantwortung zu übernehmen, auch wenn es mir keine Freunde macht?
Gott ist nicht einfach die Antwort auf alle Fragen. Aber nach ihm zu fragen verändert mich, meine Perspektiven. Der Horizont eines anderen, erlösten, befreiten Lebens. Ein Leben, das mit Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung wirklich Ernst macht.
Vom verborgenen Leuchten Gottes
Wo bist Du, Gott?
Ich weiß es oft nicht. Kann Dich nicht zeigen.
Hab keine einfache Antwort auf viele schwierige Fragen.
Doch ich suche Dich. Dein verborgenes Leuchten.
Und vertraue darauf, dass Du da bist. Immer schon.
Als Wolkensäule bei Tag und als Feuersäule bei Nacht.
Verschieden in Gestalt. Verhüllt, verborgen.
Doch tiefenmächtig. Feurig. Erhaben.
Du bist mir Kraft. Orientierung.
Nimmst mich hinein in die Bewegung Deiner Liebe.
Du leuchtest in der Welt.
Das lässt mich wandern – bei Tag und bei Nacht.
Gemeinsam mit anderen durch die Wüste.
In eine Zukunft, die wir nicht kennen.
Doch von der ich weiß, dass Du dort auf uns wartest.
Amen. (TL)
Foto:
Darkmoon Art auf ©www.pixabay.com
Info:
Thorsten Latzel , früher Frankfurt, ist seit 20. März Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland
Weitere Texte: www.glauben-denken.de