Yves Kugelmann
Hamburg, (Weltexpresso) - Der Weg durchs Hamburger Grindelviertel ist mit unzähligen Stolpersteinen und Geschichten gepflastert. Links das Gebäude der Talmud-Thora, heute eine jüdische Schule. Ein paar Schritte weiter blickt man von der Beneckestrasse über den Bornplatz, wo die 1906 eingeweihte und 1938 zerstörte Hauptsynagoge stand. Seit 1988 erinnert ein Bodenmosaik an die Synagoge, die nun wieder aufgebaut werden soll.
Die Hamburger Bürgerschaft hat das Projekt eingegeben. Ein Beispiel von Abertausenden in Europa. Der öffentliche Raum hat seine Geschichte. Erinnerung ist kein Selbstzweck sondern hat mit dem Bewusstsein einer Gesellschaft zu tun und drückt aus, wofür und zu was sie steht. Schweigen wird zur Negation.
«Raus aus der Schuld-Neurose!» titelte vor fünf Tagen die «NZZ am Sonntag». «Eine Geschichte der Sammlung Emil Bührle zeigt Weg aus der Sackgasse in der Debatte um Restitution», schreibt Gerhard Mack und verkennt, dass es bei der Debatte nicht um längst aufgearbeitete Restitution, sondern darum geht, dass die Stadt Zürich den Pakt mit dem Nazi-Kollaborateur Bührle an prominenter Stelle eingegangen ist. Einen Nazi-Kollaborateur, der weder von der Stadt noch von Mack als solcher benannt wird, und zu einer allfälligen Schuld hat sich bis noch niemand bekannt.
Die Neurose indessen ist da. Die Neurose von Verdrängung, Negation, Ignoranz. Denn der Kunsthausplatz steht seit den 1940er Jahren wie kaum ein anderer für die jüdische Immigration. Im Schauspielhaus fanden viele Emigranten oder eben Nazi-Flüchtlinge eine neue Heimat: Kurt Hirschfeld, Therese Ghiese, Leopold Lindtberg, Maria Becker und so viele andere. Wer das nicht weiß, findet am Platz auch keine Informationen darüber. Nun – jetzt soll das anders werden, weil die Stadt Zürich den Pakt mit dem Nazi-Kollaborateur im Nacken und die aktuelle Debatte um den Abriss des Theatersaals im Schauspielhaus vor Augen hat. Zwinglianischer Ablass (vgl. tachles 51/2020), der irgendwie exemplarisch für den selektiven Umgang der Schweiz mit Geschichte steht. Dass Opfergruppen das ändern wollen, bleibt verstörend. Denn am Bewusstsein einer Gesellschaft ändert dies nichts, auch nicht an der unterstellten Selbstneurose. Vielleicht ändern die Stolpersteine in der Schweiz dies ja, oder Zürich und die Schweiz nehmen sich ein Vorbild an europäischen Orten der Erinnerung.
Foto:
Grinderviertel
©dasfliegendeklassenzimmer.org
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 25. 6. 2021
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Die Neurose indessen ist da. Die Neurose von Verdrängung, Negation, Ignoranz. Denn der Kunsthausplatz steht seit den 1940er Jahren wie kaum ein anderer für die jüdische Immigration. Im Schauspielhaus fanden viele Emigranten oder eben Nazi-Flüchtlinge eine neue Heimat: Kurt Hirschfeld, Therese Ghiese, Leopold Lindtberg, Maria Becker und so viele andere. Wer das nicht weiß, findet am Platz auch keine Informationen darüber. Nun – jetzt soll das anders werden, weil die Stadt Zürich den Pakt mit dem Nazi-Kollaborateur im Nacken und die aktuelle Debatte um den Abriss des Theatersaals im Schauspielhaus vor Augen hat. Zwinglianischer Ablass (vgl. tachles 51/2020), der irgendwie exemplarisch für den selektiven Umgang der Schweiz mit Geschichte steht. Dass Opfergruppen das ändern wollen, bleibt verstörend. Denn am Bewusstsein einer Gesellschaft ändert dies nichts, auch nicht an der unterstellten Selbstneurose. Vielleicht ändern die Stolpersteine in der Schweiz dies ja, oder Zürich und die Schweiz nehmen sich ein Vorbild an europäischen Orten der Erinnerung.
Foto:
Grinderviertel
©dasfliegendeklassenzimmer.org
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 25. 6. 2021
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.