Yves Kugelmann
Europa (Weltexpresso) - Die Kinder spielen wieder unbeschwerter auf den Straßen. Trotz Pandemie. Sie werden noch lange nicht geimpft sein. Langsam kommt der Alltag und eine Art Leichtigkeit zurück. Die Gegenwart mit ihren Herausforderungen spiegelt sich im jüdischen Alltag immer wieder in Erinnerung und Gedenktagen. So auch am Sonntag an Tisch Beaw. Der Feiertag stellt das Ende eines Zyklus von Erinnerung an Katastrophen der jüdischen Geschichte dar – so unter anderem an die Zerstörung der beiden Tempel.
Doch welchen Sinn kann solches Gedenken generell und speziell in Zeiten existentieller Herausforderungen haben? Hat die Erinnerung jemals die Gegenwart verändert oder verbessert? Tischa Beaw steht als Mahnung für «sinat chinam», den gegenseitigen Hass innerhalb einer entzweiten Gemeinschaft, die gemäß Interpretatoren zu Katastrophen der jüdischen Geschichte der damaligen Zeit geführt haben sollen. Ein pädagogisches Lehrstück vielleicht, mit fragwürdiger psychologischer Tiefenwirkung, wenn die historische Identitätsbildung jeweils vom Feind Amalek, von Katastrophen und nicht von Errungenschaften, kulturellem Selbstbewusstsein oder Zukunftszugewandheit ausgeht – wie sie noch am ehesten in der Pessachgeschichte zu finden ist.
Wer die Gegenwart allerdings in der Geschichte spiegelt, findet rasch Analogien jüdischer Gesellschaften, die gerade heutezutage wieder mehr und mehr auseinanderdriften, da gemeinsame Nenner schwinden. Juden in USA und Israel, charedische und säkulare, aschkenasische und sephardische, progressive und traditionelle Jüdinnen und Juden finden weniger zueinander. Vielleicht ist das gut so und die Geschichte als Referenz mag der falsche Massstab sein. Wenn es wiederum um die Frage der Identitätsbildung geht, bleibt die Frage zu debattieren, ob eine solche aus einem Negativum zukunftsgerichtet sein kann.
Die Unbeschwertheit der Kinder soll bleiben und ihre eigenen Erfahrungen der Gegenwart sollen prägend sein. Tischa Beaw und andere historische Referenzen sind zentraler Teil jüdischen Selbstverständnisses. Diese Art von Rückbesinnung, der permanente rückwärtsgewandte Quellenbezug, sollte aber nicht zwischen Gegenwart und Zukunft stehen.
Foto:
©jedischeslebenberlin.org
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 16. Juli 2021
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Die Unbeschwertheit der Kinder soll bleiben und ihre eigenen Erfahrungen der Gegenwart sollen prägend sein. Tischa Beaw und andere historische Referenzen sind zentraler Teil jüdischen Selbstverständnisses. Diese Art von Rückbesinnung, der permanente rückwärtsgewandte Quellenbezug, sollte aber nicht zwischen Gegenwart und Zukunft stehen.
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 16. Juli 2021
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.