uno fluechtlingshilfe.deDAS JÜDISCHE LOGBUCH  Ende Juli 

Yves Kugelmann


Mittelmeer /Weltexpresso) - Naturkatastrophen, selbst wenn menschengemacht, sind weniger abwendbar als Menschenkatastrophen. Während in Europa, China, den USA Menschen von Sintfluten, Überschwemmungen und Hitze, in Äthiopien und Sudan jedoch auch von Hunger bedroht sind, leiden Menschen weltweit unter menschgemachten Katastrophen. Millionen sind auf der Flucht aus Konfliktgebieten, Abermillionen Kinder, Frauen und auch Männer sind Opfer von täglichem Missbrauch, noch mehr von sozialer Ungerechtigkeit.

Während der permanente, längst etablierte Normalzustand nur selten in der öffentlichen Debatte und politischen Agitation Einlass findet, schaffen es Skandale und Katastrophen einfacher, bewirken kurzfristiges politisches Handeln in demokratischen und somit wahlorientierten Systemen, die nicht nachhaltig sein und Problemlösungen nur begrenzt erwirken können.

Farhad flüchtete mit seiner Familie vor den Taliban (vgl. tachles 32/2020). Seit Herbst 2019 sitzt der heute 20-Jährige im Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos. Immer noch. Getrennt von seiner jüngeren Schwester, die das Lager in Richtung Athen verlassen konnte und nun versucht, nach Deutschland zu Verwandten zu gelangen. Seit 26 Monaten wartet Farhad auf ein Asylverfahren und Gleichbehandlung. Er darf nicht arbeiten, darf keine Schule besuchen. Der einst kerngesunde Junge leidet durch die lange Dauer zuerst im inzwischen abgebrannten Flüchtlingslager Moryiah und nun im Ersatzlager am Meer an Krankheiten. Die Pandemie konnte er durch Disziplin abwehren, anderes nicht.

Nun möchte er vor dem Winter illegal das Lager verlassen und einen gefährlichen, abenteuerlichen Weg aus der Perspektivlosigkeit suchen. Wieder übers Wasser. Lebensgefährlicher Existenzialismus. Derweil beschäftigt sich Politik mit anderem. Globale Probleme haben nur bedingt mit Globalisierung zu tun. Globale Lösungen mit verantwortungsvoller, langfristiger Politik, die in anderen Zeithorizonten als legislaturabhängige Politik etabliert werden muss. Die Populisten in demokratischen Systemen haben Gesellschaften und Politik in den letzten Jahren in Europa, USA, Südamerika mehr zurückgeworfen als es Tyrannen in despotischen Systemen gerne selbst getan hätten. Dieses politische Paradox von Männern, die das System mit den Mitteln der Demokratie selbst aushebeln und gerade die Gerichtsbarkeit zurückdrängen wollen, wird verheerende Folgen haben in den nächsten Generationen. Die Aufhebung der Immunität von Politikern wird ein erster, aber längst nicht letzter Schritt für eine neue Politik sein.

Das Jahr 2021 wird das Jahr der richtigen oder falschen Weichenstellungen sein. Partikularpolitik ohne Blick aufs Ganze oder andere stösst an ihre Grenzen. Selbstdefinierte Gruppen, auch jüdische, politische Bewegungen oder Lobbys müssen Programme formulieren, die auf Augenhöhe mit den globalen Herausforderungen stehen wenn sie an Lösungen teilhaben und diese fördern wollen. Das Ganze vor Augen, wird dem Einzelnen gerecht werden können, wenn politische und soziale Gerechtigkeit für alle Ziel sind. Neu- und zukunftsorientiert gedacht, kann gerade auch die jüdische Gemeinschaft vermehrt eine Pionierrolle übernehmen. Let's go for it!


Foto:
in Griechenland
©uno fluechtlingshilfe.de

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 23. Juli  2021
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.