WELT Corona-Update
Hamburg (Weltexpresso) - In Ländern wie Frankreich oder Griechenland haben gegen das Coronavirus geimpfte Personen im Vergleich zu Ungeimpften einige Vorteile. Dr. Josef Franz Lindner ist Medizinrechtler und lehrt an der Universität Augsburg. Im Interview mit WELT erklärt er, ob Geimpfte und Genesene in Deutschland auch gesondert behandelt werden könnten – und was das für Ungeimpfte bedeuten würde.
WELT: In Deutschland soll es keine Impfpflicht geben, doch die Diskussion um gewisse Freiheiten oder Vorzüge für Geimpfte und Genesene ist entfacht. Ist eine Einteilung in diese Gruppen rechtlich gesehen überhaupt möglich – und vor allem haltbar?
Lindner: Ich würde nicht nur sagen, dass das rechtlich möglich ist, sondern in bestimmten Konstellationen sogar verfassungsrechtlich zwingend. Wenn der Staat aus infektiologischen Gründen Corona-Maßnahmen als erforderlich erachtet, dann müssen die Personen, von denen keine wesentliche infektiologische Gefahr mehr ausgeht, von den Maßnahmen ausgenommen werden. Das wäre der Fall bei Geimpften oder Genesenen. Dies ist keine Frage der Privilegierung, es wäre schlichtweg nicht verhältnismäßig, wenn diese Personen mit Corona-Maßnahmen überzogen werden – oder dies blieben.
WELT: Wir haben in Deutschland zwar steigende Inzidenzen, befinden uns aber bei einer bundesweit relativ niedrigen Inzidenz von unter 20. Welche Rolle spielt die Gefahrensituation für die Rechtslage?
Lindner: Aus verfassungsrechtlicher Sicht muss ich ganz klar sagen, dass das maßgebliche Abstellen auf den Inzidenzwert keine geeignete Grundlage für massive Grundrechtseinschnitte ist, wie wir sie hatten. Das mag in der ersten und zweiten Welle anders gewesen sein, aber nun haben wir eine differenzierte Situation: Wir verzeichnen einen beachtlichen Impffortschritt mit rund 50 Prozent an Zweifach-Geimpften beziehungsweise Immunisierten. Die Verteilung der Neuinfektionen in den Bevölkerungsgruppen variiert und die Auslastung der Gesundheitssysteme ist eine geringere als in den früheren Wellen. Der Inzidenzwert muss verfassungsrechtlich zwingend um andere Parameter ergänzt werden.
WELT: Welche Parameter wären das?
Lindner: Zum einen halte ich die Verteilung der Inzidenzen in den jeweiligen Altersgruppen für wichtig, die ja ganz unterschiedlich gefährdet sind. Zweitens erachte ich die Hospitalisierungsquote als ratsam und drittens die Intensivstationsquote. Als Viertes sehe ich den Impffortschritt und gegebenenfalls fünftens noch den R-Wert. Diese verschiedenen Parameter müssten wir neben dem Inzidenzwert in den Blick nehmen. Nur auf den Inzidenzwert zu schauen, halte ich für unangemessen und verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar.
WELT: Lassen sich beim jetzigen Impffortschritt Beschränkungen für vollständig Geimpfte oder Genesene überhaupt noch rechtfertigen?
Lindner: Allgemein lassen sich Maßnahmen nur rechtfertigen, wenn von demjenigen, gegen den sie verhängt werden, eine gewisse Gefahr ausgeht. Wenn wir unseren Wissenschaftlern vertrauen, dann ist dies bei Geimpften nicht mehr der Fall: Sie können sich zwar noch anstecken, sind aber nicht mehr so ansteckend, dass sie eine relevante Gefahr für das Infektionsgeschehen darstellen. Dann kann ich ihnen gegenüber bestimmte Maßnahmen aber nicht mehr rechtfertigen.
WELT: Wäre es auf lange Sicht rechtlich haltbar, dass man diejenigen, die sich nicht impfen lassen wollen oder können, zum Beispiel zum Testen verpflichtet und ihnen gegebenenfalls sogar die Kosten in Rechnung stellt?
Lindner: Aus meiner Sicht können wir diejenigen, die sich nicht impfen lassen können, nicht etwa von der Teilhabe am sozialen, bildungsbezogenen oder wirtschaftlichen Leben ausnehmen. Damit meine ich Personen mit bestimmten Erkrankungen oder auch Kinder bis zum 12. Lebensjahr. Diesen Menschen muss man die Möglichkeiten schaffen, dass sie zum Beispiel durch Tests Zutritt zu Schulen oder Restaurants bekommen können. Die Teilhabe nur noch Geimpften zu ermöglichen, ginge also nicht. Auch Nicht-Geimpften müsste durch Tests ein Zugang ermöglicht werden. Davon zu unterscheiden ist die Bezahlung dieser Tests: Bei denjenigen, die sich nicht impfen lassen können, würde ich an den kostenlosen Tests festhalten. Sie können ja nichts dafür, dass sie nicht geimpft werden können. Bei denjenigen, die ein Impfangebot bekommen haben und kein Grund vorliegt, sich nicht impfen zu lassen, ist es hingegen nicht einzusehen, warum die Solidargemeinschaft weiter die Tests finanzieren soll.
WELT: Unabhängig davon, was am Ende Rechtslage wird, führen wir bereits die Debatte um die Rechte und teilen im Diskurs gesellschaftlich ein in Geimpfte sowie Genesene und auf der anderen Seite die Ungeimpften. Wie beurteilen Sie als Jurist diese Entwicklung?
Lindner: Als Staatsrechtler muss ich sagen, dass man diese Personen unterschiedlich behandeln muss, weil sie aus infektiologischer Sicht ein unterschiedliches Risiko darstellen. Aber Ungeimpfte sind nicht negativ zu behandeln, weil sie ungeimpft sind – denn das wäre Diskriminierung. Die geimpften Personen sind bei Maßnahmen aber möglicherweise deswegen zu bevorzugen, weil von ihnen keine Gefahr ausgeht. Das Entscheidende ist also, dass hinter dieser Einteilung ein sachlicher Grund steht. Der Gesetzgeber sollte sich davor hüten, den Ungeimpften die soziale und gesellschaftliche Teilhabe nur deswegen vorzuenthalten, weil sie ungeimpft sind.
DER BLICK AUF DIE ANDEREN
Für die Italiener ist es nun offiziell: Die Delta-Mutation hat innerhalb eines Monats fast alle andere Coronavirus-Varianten verdrängt. Delta sei für knapp 95 Prozent der Neuinfektionen verantwortlich, teilte das Nationale Gesundheitsinstitut (ISS) mit. Vor einem Monat habe der Anteil noch bei knapp 23 Prozent gelegen. Am Freitag lag die landesweite 7-Tage-Inzidenz in Italien bei 57,1. Stark betroffen sind die Regionen Venetien, die Toskana, Umbrien, Sizilien und Sardinien.
Seitdem die italienische Regierung vergangene Woche angekündigt hat, das Corona-Impfzertifikat – auch bekannt als „grüner Pass" – für Teile des öffentlichen Lebens verpflichtend zu machen, ist kein Tag ohne Proteste der Impfgegner vergangen, berichtet unsere Redakteurin Virginia Kirst aus Rom. Am vergangenen Wochenende demonstrierten die Italiener in über 80 Städten unter „Freiheit, Freiheit“-Rufen gegen die vermeintliche „Gesundheitsdiktatur“ – auch für dieses Wochenende sind Demonstrationen angekündigt.
Der „grüne Pass" wird zum 6. August eingeführt – ohne ihn kommt man dann nicht mehr in Kinos, Museen, Fitnessstudios oder Restaurants. Eine Ausnahme gibt es allein für den Kaffee am Tresen, schreibt Virginia Kirst: Diese italienische Tradition darf auch fortan ohne Impfpass vollzogen werden. Alle Hintergründe zu den italienischen Maßnahmen lesen Sie hier.
Gerade wegen dieser strengen Zugangsbeschränkung steigt jetzt in Italien die Impfbereitschaft: Rund 60 Prozent der Italiener über 12 Jahre sind geimpft. Die Regierung strebt eine Impfquote von mindestens 80 Prozent an.
DER LICHTBLICK
Im August beginnt die Auszahlung des sogenannten Kinderfreizeitbonus an Familien mit geringem Einkommen: Dadurch erhalten Eltern für jedes Kind bis 18 Jahre einmalig 100 Euro. Familienministerin Christine Lambrecht (SPD) erklärte, das Geld könnten die Familien mit geringem finanziellem Spielraum etwa für Sport und Freizeitaktivitäten ausgeben – „je nach Lust und Laune". Der Bonus ist Teil eines Aufholprogramms für Kinder und Jugendliche, um negative Folgen der Corona-Einschränkungen abzumildern. Der Bund stellt für den Freizeitbonus 270 Millionen Euro zur Verfügung.
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Quelle: Gregor Fischer/dpa
Quelle: Riccardo De Luca/AP/dpa
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