Yves Kugelmann
Berlin, (Weltexpresso) - Die Kuppel der wiederaufgebauten Neuen Synagoge an der Oranienburgerstrasse leuchtet in der Septembersonne zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur. Ein Ort der Begegnung, des Dialogs und der Erinnerung. Ein Ort, der die Verantwortung von Individuen und Gesellschaft für das Bewusstsein um Geschichte in Dialog setzt. Ein Dialog, der letztlich symbolischer nicht sein könnte für die Jamim Noraim.
Denn in der Liturgie zu Rosch Haschana und Jom Kippur geht es nicht nur um die Sühne des einzelnen Menschen, sondern in vielen Texten um die kollektive Verantwortung der Gemeinschaft («chatanu»). Diese Tradition steht durchaus im Einklang mit der jüdischen Mythologie und Idee als Ganzes. Während die Gemeinschaft in Solidarität mit Individuen tritt, haben die Gemeinschaft, die Gemeinde, letztlich auch der Minjan eine kollektive Verantwortung; gerade für die nächste Generation.
Im aktuellen Kontext weltweiter Herausforderungen geht das jüdische Gemeinschaftsprinzip im Spiegel der Maximen der Vernunft auf das gemeinsame Primat zurück, dass die oder der andere zum Massstab jeden Handelns wird. Das bedeutet auch, dass die anderen durchaus jene nachfolgenden Generationen mit meint, die erst geboren werden.
Da bekommt das «Wir» der Gegenwart auf einmal eine andere Bedeutung – eine hinter der sich das Individuum nicht in der Anonymität verstecken kann, sondern in dem jede und jeder einzelne nach dem Minjan-Prinzip zählt. Längst wird an Jom Kippur also nicht nur das Urteil über einzelne Menschen, sondern eben auch jenes über die Gemeinschaft besiegelt. In Gemeinschaft werden die Sühnetexte gesagt, viele sind in den Selichot im Plural formuliert. Die goldene Kuppel Berlins leuchtet symbolisch für die Idee jüdischer Gemeinden, die über Jahrhunderte die Verantwortung als Gemeinschaft in Gemeinschaft manifestierten – und gar als Kollektiv vernichtet werden sollte. Die jüdische Idee ist kein aktuelles Parteiprogramm. Doch kann sie sich der globalen Verantwortung um die Schöpfung, auf die sie sich beruft, nicht entziehen. Die Tage der Sühne stehen noch mehr als sonst in dieser Dualität zwischen Individuum und Kollektiv. Eine Verantwortung, die eine zutiefst menschliche ist, für Gläubige und nicht Gläubige.
Foto:
©
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 10. September 2021
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Da bekommt das «Wir» der Gegenwart auf einmal eine andere Bedeutung – eine hinter der sich das Individuum nicht in der Anonymität verstecken kann, sondern in dem jede und jeder einzelne nach dem Minjan-Prinzip zählt. Längst wird an Jom Kippur also nicht nur das Urteil über einzelne Menschen, sondern eben auch jenes über die Gemeinschaft besiegelt. In Gemeinschaft werden die Sühnetexte gesagt, viele sind in den Selichot im Plural formuliert. Die goldene Kuppel Berlins leuchtet symbolisch für die Idee jüdischer Gemeinden, die über Jahrhunderte die Verantwortung als Gemeinschaft in Gemeinschaft manifestierten – und gar als Kollektiv vernichtet werden sollte. Die jüdische Idee ist kein aktuelles Parteiprogramm. Doch kann sie sich der globalen Verantwortung um die Schöpfung, auf die sie sich beruft, nicht entziehen. Die Tage der Sühne stehen noch mehr als sonst in dieser Dualität zwischen Individuum und Kollektiv. Eine Verantwortung, die eine zutiefst menschliche ist, für Gläubige und nicht Gläubige.
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 10. September 2021
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.