Yves Kugelmann
London (Weltexpresso) - Lemml steht auf der Bühne des Menier Chocolate Fabric Theater in der London Southbank. Von draussen klingt das yiddische Lied «A Vaibele a Tsien» aus den Boxen in einer Aufnahme der 1930er Jahre. Lemml spielt den Bühnenmanager im Stück «Indecent» und erzählt die Geschichte von Scholem Aschs 1923 am Broadway verbotenem Stücks «Der Gott der Rache».
Der erste Bühnenkuss zwischen zwei Frauen war auf einer New Yorker Bühne zu viel, während jenseits des Atlantiks im Weimarer Berlin Freizügigkeit, Freiheit und freie Kunst ihre besten Zeiten feierten, in Osteuropa weiterhin Pogrome gegen Juden wüteten und langsam alles auf die finale Zerstörung der Schoah zusteuerte.
Die Inszenierung der Regisseurin Rebecca Taichman und der Dramatikerin Paula Vogel vereint all dies und noch viel mehr in einer brillanten Erzählung einer unbekannten Geschichte mit bekanntem Ausgang, hervorragend in Szene gesetzt, da im Zuschauerraum kaum ein Auge trocken bleibt zwischen Freude und Trauer. Kein folkloristischer Kitsch, authentisch, tief verwurzelt mit der gelebten jüdischen Theater- und Schreibkultur und Realität von einst zwischen Aufbruch, Verfolgung, Migration, Antisemitismus, Freiheit.
Das richtige Stück zur richtigen Zeit in der richtigen Inszenierung mit Blick auf weltweite gesellschaftliche Umbrüche der Gegenwart. Und so sagt die Regisseurin zur Einordnung des Stücks: «Ich hätte nicht gedacht, dass ‹Indecent› heute so relevant sein würde, wie es heute ist; wir sind wieder einmal Zeuge eines Umbruchs von Angst, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie und, ja, Antisemitismus.» Und dann: «Wir befinden uns inmitten des stärksten weissen Nationalismus seit den 1920er Jahren, als die amerikanischen Grenzen für Einwanderer geschlossen wurden. In diesem Moment der Zeit müssen wir sagen, dass wir alle Muslime sind. Wir müssen die Bedeutung unserer Kunst und Kultur zurückgewinnen. Wir müssen uns daran erinnern, wohin die Schließung der Grenzen im 20. Jahrhundert die Nationen rund um den Globus geführt hat.»
Lemmls Traum indessen von der grossen freien Welt in «Americe!» geht in Bühnenstaub und Schoah-Asche auf. Er sieht, was da kommt und trägt die Theatertruppe durch die Zeit, öffnet den Zuschauern die Augen und eigentlich der ganzen Welt. Doch wer hört schon einem Migranten, einem Geschichtenerzähler, einem kleinen Bühnen-Lemml zu.
Foto:
©theatremonkey.com
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 5. November 2021
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Das richtige Stück zur richtigen Zeit in der richtigen Inszenierung mit Blick auf weltweite gesellschaftliche Umbrüche der Gegenwart. Und so sagt die Regisseurin zur Einordnung des Stücks: «Ich hätte nicht gedacht, dass ‹Indecent› heute so relevant sein würde, wie es heute ist; wir sind wieder einmal Zeuge eines Umbruchs von Angst, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie und, ja, Antisemitismus.» Und dann: «Wir befinden uns inmitten des stärksten weissen Nationalismus seit den 1920er Jahren, als die amerikanischen Grenzen für Einwanderer geschlossen wurden. In diesem Moment der Zeit müssen wir sagen, dass wir alle Muslime sind. Wir müssen die Bedeutung unserer Kunst und Kultur zurückgewinnen. Wir müssen uns daran erinnern, wohin die Schließung der Grenzen im 20. Jahrhundert die Nationen rund um den Globus geführt hat.»
Lemmls Traum indessen von der grossen freien Welt in «Americe!» geht in Bühnenstaub und Schoah-Asche auf. Er sieht, was da kommt und trägt die Theatertruppe durch die Zeit, öffnet den Zuschauern die Augen und eigentlich der ganzen Welt. Doch wer hört schon einem Migranten, einem Geschichtenerzähler, einem kleinen Bühnen-Lemml zu.
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©theatremonkey.com
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 5. November 2021
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.