auffelassenes grabWie ich den Sarg meiner Mutter der Erde übergab

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) – Die Nachricht vom Tode meiner Mutter erreichte mich im Februar 1966  in Bremen, wo ich seit kurzem als Redakteur bei Radio Bremen tätig war. Ich hatte Mama seit meiner Aussiedlung nur noch einmal während eines beruflichen Aufenthaltes im Nordosten von Böhmen gesehen. Sie selbst ließ die Möglichkeit, mit einem Transport deutscher Antifaschisten nach Württemberg auszureisen, ungenutzt.  Wahrscheinlich wollte sie unserer alten Oma die Unannehmlichkeiten einer mehrtägigen Reise in einem Güterwaggon nicht zumuten. Auch meine Schwester blieb in der alten Heimat, während ich zusammen mit dem getrennt von der Familie lebenden Vater in den Westen zog; unsere Eltern waren seit 1938 geschieden.

Der Winter zeigte sich damals von seiner mildesten Seite, so dass ich mir vornahm, begleitet von meiner Frau, mit dem Auto zur Beerdigung zu fahren. Unseren Sohn ließen wir bei Nachbarn. Hinter Prag schlug das Wetter um. Der Regen ging  allmählich in Schnee über  und als wir Arnau erreichten, wo meine Schwester mit Mann und zwei Töchtern inzwischen ihren Lebensmittelpunkt hatte, versank das abgestellte Auto binnen einer Stunde  unter einem Berg von Schnee und ich fürchtete, hier nicht mehr so schnell wegzukommen. Meine Schwester tröstete mich. Morgen früh würden alle Straßen geräumt sein. So war es dann auch.

Für den Trauergottesdienst versammelte sich die Familie in einer der katholischen Kirchen. Anwesend waren außer uns nur noch eine Handvoll alter Frauen mit verhärmten Gesichtern aus dem Bekanntenkreis. Der schlichte schwarze Sarg stand im Gang zwischen den Bänken vor dem Altar. Der junge tschechische Priester hatte sich gegen die Kälte mit einem dicken Pullover gewappnet, dessen blaue Ärmel bei jeder segnenden Bewegung unter dem weißen Messgewand hervorlugten. Gegen Ende des Requiems flüsterte mir der Kirchendiener ins Ohr, dass nicht genug Sargträger da seien, ob ich nicht mit anfassen könnte. So trug ich denn  gemeinsam mit meinem Schwager und zwei weiteren Männern meine Mutter hinaus zum Leichenwagen.

Während sich der kleine Trauerzug in Bewegung setzte, schmetterte eine Blaskapelle, die sich vor dem Auto aufgestellt hatte und von mir bis dahin gar nicht wahrgenommen worden war, einen Trauermarsch nach dem anderen. Vor dem Friedhof musste der Sarg auf einen Hörnerschlitten umgeladen werden, wie ihn die Bauern beim Einbringen des Heus benutzen. Die glatten Sohlen meiner sommerlichen Halbschuhe erwiesen sich dabei als wenig hilfreich. Auf dem Weg zum Grab mussten wir mit dem Schlitten einige Stufen passieren. Dabei verrutschte der unbefestigte Sargdeckel. Beim Festhalten stellte ich fest, dass er ziemlich leicht war und offensichtlich aus Pappmaché  bestand.

Unteressen hatte es wieder begonnen zu schneien und von den Bergen her fegte ein schneidender Wind über den Friedhof. Vorsichtig hoben wir den Sarg vom Schlitten und stellten ihn auf die Balken über dem Grab.  Benommen starrte ich  in das  frisch ausgehobene schwarze Loch inmitten der Schneelandschaft, und wurde mir meiner Situation allmählich bewusst. Während der Pfarrer noch einmal den Weihrauchkessel schwenkte, vermischte sich  das herzzerreißende Weinen meiner Schwester mit den dünnen Stimmen  der alten  Frauen und deren Klagegesängen.  Dann glitt das Seil durch meine Hände und der Sarg versank in der Tiefe.

Die Trauergesellschaft versammelte sich anschließend in der Wohnung einer Schwester meines Schwagers zu einer fröhlichen Runde, bei der viel getrunken und gelacht wurde. Auf Satellitenbildern habe ich  vergeblich nach dem Hügel über dem Grab meiner Mutter gesucht.  Den Friedhof gibt es nicht mehr. Er wurde aufgelassen und an eine andere Stelle verlegt.

Foto:
Das Grab der Mutter des Verfassers befand in der oberen Hälfte des Gevierts  Der ehemalige katholische Friedhof von Arnau an der Elbe (Hostinné nach Labem) wurde aufgelassen und verlegt. Wie die Satellitenaufnahme zeigt, befindet sich an seiner Stelle jetzt ein kleiner Park.
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