EIN ABSCHIED ...

Klaus Jürgen Schmidt

Norddeutschland (Weltexpresso) - Anfang Dezember 2020 hatte ich so von dieser Begegnung berichtet:
"Ich hatte ihn schon einmal gesehen, in den Bremer Wall-Anlagen, im Winter, bei eisiger Temperatur. Da war er mir entgegengekommen, krebsrot gefärbtes hängendesSchnurrbarthaar, ein Stock mit einem Hirschhorn als Griff. Erst beim Vorübergehen bemerkte ich, dass er barfuß lief, die Füße krebsrot wie sein Bart. ..."

Gestern erfuhr ich von einem Bremer, der das Protokoll meiner Begegnung gelesen hatte, dieser Mann, ein Freund, sei jetzt gestorben. Er schrieb:


"Guten Tag, Herr Schmidt!

Am 27.12.2021 zum Jahresende ist das Leben der Hauptfigur in Ihrem Artikel über Axel Sorokowski zu Ende gegangen. Ich kannte Axel recht gut seit den 80-ziger Jahren – hatten wir doch damals am Uni-See (Rotes Meer, wegen der Nähe zur “Roten Uni”, der Reform-Universität) für einen separaten FFK –Strand gekämpft und hatten durch Hartnäckigkeit auch Erfolg. Dort gehörte Axel wie ich auch zum harten Kern einer Gruppe von Bocciaspielern, die sich nicht nur im Sommer zum Boccia Spielen trafen. Wir haben damals viel Zeit miteinander verbracht. Auch später traf ich Axel, zwar nur gelegentlich, wenn er mit seinem Hund unterwegs war, aber sonst waren unsere Wege andere, es war inzwischen ja auch viel Zeit ins Land gegangen und jeder hatte sein eigenes Leben. Als ich die Todesanzeige am Samstag den 08.01.2022 im WESER-KURIER sah – war ich traurig, hatten wir doch eine so sonnige und reiche Zeit miteinander verbracht! Da mein Beruf und Hobby unter anderem die Recherche ist, habe ich mich an die Arbeit gemacht und Ihren o.g. Artikel gefunden. ... Aus meiner Zeit am Unisee verfüge ich noch über einige Fotos (damals auf Papier), die Axel und seinen Motorrad fahrenden Hund zeigen, das übrigens auch in den Familienanzeigen im WESER-Kurier in der Todesanzeige seiner Freunde, Nachbarn zu sehen ist."

Hier als Nachruf noch einmal meine eigene Erinnerung an einen ungewöhnlichen Bremer:

"... Vielleicht ein Jahr später fragt der Mann mit dem Hirschhorn-Stock, ob er sich neben mich setzen dürfe, auf die mittlere Bank mit Blick auf Weser und „Umgestürzte Kommode“. Ich erkenne das krebsrote Barthaar und die krebsroten nackten Füße, am gelegentlich einsetzenden Schnaufen bemerke ich aber auch, dass der Mann Atemprobleme hat.

„Stört Sie der Pfeifenrauch?“ frage ich, und bin im Begriff, die eben angezündete Pfeife auszuklopfen.
„Nee, nee,“ sagt er, „COPD!“ und klopft sich an die Brust.
„Kommt das davon?“ will ich wissen und zeige auf seine nackten Füße.
„Die sind gesund,“ antwortet der Mann und schaut mich durch die schwarzen Gläser seiner Brille an, dann klopft er wieder an seine Brust. „Das hier drinnen ist kaputt.“
Er schnauft und guckt auf seine krebsroten Füße. Auf dem Nagel des großen Zehs am rechten Fuß scheint etwas Aufgeklebtes zu glitzern.

„Ich komm’ hier fast jeden Tag vorbei. Aber die mittlere Bank ist meist besetzt. Von hier seh’ ich genau geradeaus auf die 'Umgestürzte Kommode'.“ Und er weist hinüber auf die andere Weser-Seite zum alten Wasserturm, dessen Backsteinbau diesen Spitznamen wegen seiner vier Ecktürmchen erhielt, die wie in den Himmel ragende kurze Füsse eines Möbelstücks aussehen. Zwischen Bremer Denkmalschutz und Investoren ist die Neunutzung umstritten. Es geht sozusagen um müde Füße und ob für diese ein Fahrstuhl an- oder eingebaut werden müsste.

„Seit wann laufen Sie denn schon barfuß durch Bremen?“
„Seit zwanzig Jahren. Damals kamen mir beim ALDI meine Sandalen abhanden. Da musste ich barfuß weiter, und da hab ich gemerkt, dass das Spaß macht, dass das gut tut. Seitdem habe ich nie wieder Schuhe getragen, obwohl ...“ er scheint hinter seinen dunklen Gläsern zu grinsen, „ ... eigentlich war ich ein Schuh-Fetischist, immer das Beste. Und die Socken habe ich mir immer selber gestrickt. Wissen Sie, ich war Dolmetscher beim Gericht. Da gibt’s immer ‘mal lange Pausen, dann habe ich meine Socken gestrickt. Für jeden Tag hatte ich frische.“

Ein Bremer Gerichtsdolmetscher, der einst seine Socken selber strickte und jetzt seit zwanzig Jahren barfuß durch Bremen läuft? ...

„Was für Jahrgang sind Sie, wenn ich fragen darf. Und haben Sie immer hier gelebt?“
„Jahrgang vierundvierzig ...“
„Das ist auch meiner ...“

„Aber ich kam als Kuckuckskind zur Welt, und nicht in Bremen.“
„Jedenfalls barfuß ... Und wo?“
„Eigentlich auf dem Jahrmarkt, reingeboren in eine Wurst-Dynastie, die in Hamburg und umzu schon vor ‘nem Jahrhundert bei allen möglichen öffentlichen Veranstaltungen ihre Wurstbuden aufbaute, sogar wenn die Alster zugefroren war, da gab’s Würstchen für die Schlittschuhläufer. Nee, nach Bremen durften wir gar nicht, da gibt’s so Wurstgrenzen, wissen Sie. Und 'Wurst-Spenden' waren immer wichtig, für alle, die ’was zu bestimmen haben beim Jahrmarkt-Geschäft. Das ist heute noch so, erkundigen Sie sich ‘mal bei denen auf‘m Freimarkt oder auf der Osterwiese. ...Na ja, und das Geschäft lief sogar in Kriegszeiten so gut, dass wohl Personal gebraucht wurde, und der Mann meiner Mutter war trottelig genug, meinen Vater selber anzuschleppen – einen hübschen polnischen Zwangsarbeiter! ...

Meine Mutter hatte also bald einen Neuen, und der hieß Sorokowski. Ich bin sein Axel ... und Du bist? ... weißte, ich duze immer alle!“

„Ich bin der Klaus ... Äh ... ein Jahrmarkt-Kind? Ich hab’ ‘mal vor Jahrzehnten eine Reportage gemacht über die Casselli-Familie, die damals mit ihrem kleinen Zirkus in Hastedt gastierte. Hängen geblieben davon ist bei mir das Problem der Kinder, die dauernd in eine andere Schule gehen mussten. ...“

„Nicht bloß das! Der Lärm, der dauernde Lärm von den Fahrgeschäften rundherum. Wir lebten ja praktisch permanent im Wohnwagen auf diesen Märkten. Nee, das wollt’ ich mir nicht antun. Als ich alt genug war, hab’ ich mich nach ‘ner Lehre umgesehen, im Gaststättengewerbe. Das war nicht einfach, da musste ich oft ‘mal zu Hause um Geld betteln. ...
Aber ich hab’s geschafft, bin dann nach Frankreich, nach Paris in ein paar gute Restaurants, hab’ Französisch gelernt. Aber dann gab’s da diese Studenten-Revolte, Paris brannte. ... Wenn ich’s recht bedenke, kam überall da, wo ich abhaute, nach mir die Revolution. ... Ich also ab nach England. Und da gab’s die Möglichkeit, mit meiner Berufserfahrung den A-Level anerkannt zu bekommen. Das hieß Zugang zu einem Studium. Ich machte meinen BA und hab’ dann sozial benachteiligten Kids ordentliches Englisch beigebracht. Ja, und dann hab' ich die britische Staatsbürgerschaft beantragt. Auch das hat geklappt, ich hätt’ mich bloß noch bei der Polizei melden müssen. ...

Aber dann kriegte ich Post aus Bremen. Der alte Sokorowski lag im Sterben ... mein Vater. Der hatte es auch nicht leicht gehabt. Meine Mutter hatte nämlich zum dritten Mal geheiratet. Da hat er oft am Meer gestanden und ihren Namen gerufen. ...
So wurde ich nicht Brite, sondern Bremer, Dolmetscher für Englisch und Französisch, hier am Gericht.“
„Und Sockenstricker in den Arbeitspausen!“ sage ich, und erkläre, seine Geschichte gehöre aufgeschrieben:

„DER BARFUSSGÄNGER VON BREMEN“

Er gibt mir seine Adresse und setzt seine tägliche Runde fort – auf krebsroten nackten Füßen. Erst als er hinter der Ziegelmauer des Erste-Weltkrieg-Denkmals verschwunden ist, fällt mir eine Schlussfrage ein: haben die ihn am Gericht auch barfuß dolmetschen lassen?

Und ich beginne zu grübeln: Vor zwanzig Jahren, da war der Axel dreiundfünfzig. ...
Frührentner? COPD?
Im Internet lerne ich später: „COPD = Chronisch obstruktive Lungenerkrankung (englisch: chronic obstructive pulmonary disease)“, und weiter lerne ich: „Bewegung erhält die Lungenfunktion und erhöht die körperliche Belastbarkeit“.
Hat der Axel mit seinem Barfußgehen zufällig eine Therapie gefunden, die ihm zwanzig Jahre geschenkt hat? ..."

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© WK / KJS

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